Dorothea schreibt an ihrer Facharbeit über Delfinstimmen

Ihr Arbeitszimmer war kahl. Um jede Ablenkung zu verhindern, hatte sie ihren Schreibtisch nicht vor das große Doppelfenster, sondern vor die einförmig weiße Wand gerückt. Als einziger Schmuck hing in Augenhöhe über dem Tisch eine kleine blaue Kachel. Hin und wieder blickte sie auf und vertiefte sich in die Kachel, um die Augen zu entspannen. Wenn sie lange genug hinsah, gerieten die hellen Wirbel auf dem winzigen blauen Viereck in Bewegung und strahlten wie Wellenstrudel in leuchtenden Wasserfarben. Dann senkte Dorothea den Blick und schaute wieder auf ihre Hände auf den Computertasten. »Delfine haben keine Hände«, dachte sie. »Vielleicht ist das das Beste an ihnen. Sie sind intelligent und gesellig, aber sie haben keine Kriegsstrategien entwickelt und verschmutzen ihre Umwelt nicht. Weil sie keine Hände haben.«

Einen Augenblick verweilte sie tatenlos und genoss das Gefühl, ganz allein auf diesen Gedanken gekommen zu sein, der ihr erhaben und philosophisch vorkam. Dann riss sie sich zusammen und rieb ihre tränenden Augen. Tagelang hatte sie dicke Fachbücher gewälzt, dürre Diagramme und Kurvenblätter beglotzt, verglichen und getippt, aber noch nie hatte sie einen wild lebenden Delfin aus der Nähe gesehen.

Gespräch mit Delfinen

Dorothea fuhr mit dem Bus nach Hause. Ihr Computer, den sie meist den ganzen Tag eingeschaltet ließ, rauschte eintönig auf ihrem Schreibtisch, mit grünem Lichtchen Bereitschaft meldend. Der Bildschirm hatte sich ausgeknipst. Gewohnheitsmäßig setzte sich Dorothea, noch in Jacke und Schal, vor das Gerät und rief das Mail-Programm auf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die neuesten Nachrichten aus dem Datenhimmel hereintrudelten. Ihre neue Freundin, die Delfintrainerin in Florida, schickte ihr eine Mail mit dem üblichen Betreff »Gespräch mit Delfinen.« Als Dorothea die Nachricht öffnete, bestand sie nur aus vier kryptischen Zeilen. Es war ein Zitat aus einem Lied von Laurie Anderson (der Name stand darunter): »Swimming around and around in his tank / And one of the questions the whale kept asking him / was / Do all oceans have walls.«

Sekundenlang blieb Dorothea vor dem Bildschirm sitzen und starrte verständnislos auf die Buchstaben. In die Stille hinein piepte plötzlich schrill ihr Telefon. Dorothea machte einen nervösen Satz und fiel beinahe vom Stuhl. Es dauerte einen Augenblick, bis sie in dem Durcheinander auf ihrem Tisch das schnurlose Gerät gefunden hatte, das unaufhörlich weiterpiepte, als wolle es hämisch signalisieren: »Warm ... wärmer ... heiß ... wieder kälter.« Im Hörer meldete sich atemlos Christians Stimme. »Dorothea, lass uns gleich zusammen in die Musikakademie gehen. Kannst du herkommen?«
»Wohin denn?« Dorotheas Augen wanderten zu dem Bildschirm zurück, bis sie sich energisch zwang, die kleine blaue Kachel über ihrem Schreibtisch anzusehen.
»Ich habe gehört, die Professorin Bechstein spinnt«, rief Christian.
»Was gehört? Vom wem?«
»Von der Sekretärin. Hör zu, mein Handy zickt, ich kann nicht so lange reden. Komm in einer halben Stunde zur Musikakademie, wir treffen uns vor dem Hauptgebäude. Und bring auf alle Fälle eine von deinen CDs mit. Mit den Delfinstimmen. Vergiss es nicht, ja?«
»Aber warum denn?«
Es klickte im Hörer.

In einer halben Stunde. Dorothea stand ein wenig widerwillig auf.
Die vier Zeilen aus Laurie Andersons Gedicht klangen in ihr nach und lösten ein diffuses Unbehagen aus. Ihr Magen zog sich zusammen. Haben alle Meere Wände? Damit war alles gesagt, und trotzdem hoffte sie auf mehr, warf auf gut Glück ein Netz aus und ließ ihr Mailprogramm online, obwohl sie instinktiv wusste, es würde nichts mehr kommen. Ihr letzter Blick, ehe sie den Platz am Computer verließ, galt der kleinen Kachel.


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Laurie Anderson: John Lilly Lyrics

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