Bäckerwagenfahrerberufsrisiko

„Du musst dir selbst ein Ablenkungsmanöver ausdenken“, sagte er sich mit mörderischer Ruhe. (Joseph Hayes)


Martin zieht seine Hose an. Diese einfache Handlung fällt ihm nicht mehr so leicht wie ehedem und wird mit jedem Tag schwieriger. Vorgestern ist ihm der Hosenknopf abgesprungen und kreuz und quer durch das Zimmer geschossen wie ein Querschläger. Den Knopf wieder anzunähen, hat Martin sich geschenkt. Er schließt die Hose stattdessen mit dem Gürtel, den er ein Loch weiter stellt. Der Reißverschluss geht zwar immer wieder auf, aber das verdeckt Martin mit langen Pullovern.

Da Martin keine Waage besitzt, hat er lange Zeit für das Hosenproblem einleuchtende, entlastende Erklärungen gesucht. Er ist in eine Erdgeschosswohnung gezogen und muss keine Treppen mehr steigen, zum Beispiel. Noch besser: die Hose ist eingelaufen. Irgendwann muss Martin der Wahrheit ins nackte Auge sehen. Die Wahrheit ist: der Bauch kommt von der sitzenden Lebensweise. In seinem neuen Job sitzt er den ganzen Tag. Genau gesagt, er sitzt am Steuer des Verkaufswagens einer Bäckerei. Während er stundenlang über schlaglochdurchsetzte Landstraßen schaukelt, um auch ins entlegenste Kuhkaff frische Brötchen zu bringen, hüpfen hinter ihm duftende Hefeteilchen, knusprige Croissants und sahnige Erdbeerschnitten auf ihren Blechen herum. Martin darf essen, soviel er will. Das hat ihm sein Chef gleich am ersten Arbeitstag versichert. Damals fand er das toll. Heute wäre es ihm lieber, er müsste über jedes Sesamkorn und jeden Puderzuckerkrümel Rechenschaft ablegen.

„Du könntest dich ja zur Abwechslung mal beherrschen“, sagt er sich, beherrscht sich und lässt das Reststück Schwarzwälder Kirsch stehen. Die drei Kirschplunder, die er stattdessen nimmt, haben bestimmt weniger Kalorien. Hoffentlich.

„Du musst dir ein Ablenkungsmanöver ausdenken“ sagt er sich mit mörderischer Ruhe. Er besorgt sich morgens als erstes ein Heringsbrötchen mit Zwiebeln. Das legt er im Wagen auf die Ablage vor sich hin, so dass er es den ganzen Tag buchstäblich vor der Nase hat. Die ersten zwei Tage hilft es. Am dritten Tag ist er so hungrig, dass er das Heringsbrötchen nach einer Viertelstunde Fahrt aufisst und zum Nachtisch zwei Stück Schwarzwälder Kirsch hinterherschiebt.

Keine Frage, er ist dem Job nicht gewachsen. Seine Vorstellungen vom Essen werden zwanghaft. Ununterbrochen kreisen seine Gedanken um die Kuchenbleche hinter ihm. Der Straße widmet er nur noch mäßige Aufmerksamkeit. Rotleuchtende Ampeln erinnern ihn nur an Himbeertorte. Das gelbe Ortsschild an Puddingplunder. Ist Split auf die Straße gestreut, denkt er sofort an Mohnkuchen. An Käsekuchen zu denken, ist immer Gelegenheit, denn seit April fährt er in Sandalen.

- - - - Hoppla! Was war das? In Gedanken noch bei der dreistöckigen Quarktorte hinten im Wagen, findet er sich im Straßengraben wieder. Ein entgegenkommmender LKW hat ihn mit seinem Rückspiegel gestreift. In seinem eigenen Rückspiegel sieht Martin eben noch den davonrollenden LKW. Ein aus dem Fenster ragender muskulöser und behaarter Arm zeigt ihm den Stinkfinger.

Die Quarktorte hat sich auf seine Schultern und seinen Pullover verteilt. Als er mühsam den Kopf dreht, knackt es im Nacken, und aus seinen Haaren fallen Himbeeren. Er richtet sich auf und betastet seine Nase. Ist das Blut? Nein, nur ein mit Marmelade gefüllter Kräppel. Ihm ist nichts passiert.

Nur die Hose ist geplatzt. Aber die passte ja ohnehin nicht mehr.

Blubbern als Kunst!

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(Meridian 2/2012)

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