Der glückliche Lars Peter

Martin Andersen Nexö (1869 - 1954) beschreibt ihn so:

Es lag in Lars Peters Natur, da zuzugreifen, wo andere losließen. All das Unglück, das er gehabt, hatte ihn weich gemacht, anstatt ihn abzuhärten; sein Sinn beugte sich unwillkürlich nach dem Versäumten hin. Vielleicht war der Umstand, daß er sich des Mißratenen annahm, schuld daran, daß andere meinten, ihm mißriete alles. Sein Stück Land war ein sandiger, schwer zu bearbeitender Flecken Erde, in den sonst niemand den Pflug setzen wollte; um seine Frau beneidete ihn niemand auf der Welt, und das Vieh auf seinem Besitztum bestand zum großen Teil aus Wesen, die er auf seinen Fahrten zu den Höfen davor bewahrt hatte, totgeschlagen zu werden. Aber er konnte es sich leisten, über das, was sein eigen war, glücklich zu sein, und er schätzte es höher als alles, was andere besaßen. Er beneidete niemanden.

Lieblingsheldinnen in der Literatur habe ich mehrere - Jane Eyre, Charlotte Löwensköld, sogar die glücklose Tess D'Urberville -, aber an männlichen Helden fehlte es mir bisher. Lars Peter Hansen könnte einer werden, obwohl es am Ende auch ihm zuviel des Unglücks wird. Vierzig Seiten später: Das Unglück, das so oft an seine Tür gepocht hatte, ohne ihn zu Hause anzutreffen, hatte diesmal den Fuß energisch in die Türspalte gestellt.

"Ditte Menschenkind" von Martin Andersen Nexö ist ein Roman, in dem es an Helden und Heldinnen nicht mangelt, obwohl sie am Ende alle irgendwie scheitern. Aber ihr Scheitern hat Größe und Humor.

Ein besonders köstliches Kapitel, Lars Peter Fahrt in die Hauptstadt. Aus einem Gehöft, an dem er vorüberfährt, kommt eine Frau gerannt und hält ihn an. Sie hat einen Auftrag: Er soll ihr aus der Stadt einen Nachttopf mitbringen!

"Was, wollt ihr vornehm werden?" Lars Peter verzog den einen Mundwinkel zu einer Art Grinsen.
"Ja, weißt du, unsre Dirn hat Gichtfieber, und da hat der Arzt ihr verboten, aus dem Haus zu gehen, um ihr Wasser zu lassen", erklärte die Frau entschuldigend.
"Gewiß - das kann ich. Wie groß soll er denn sein?"
"Wenn man schon mal einen anschafft, dann ist es ja am besten, daß wir alle Nutzen davon haben. Der Alte und ich selber und dann die Tochter und unser Knecht und das kleine Mädel. Für sechs-, siebenmal Wasserlassen müßte er langen."


Übrigens kauft die kleine Ditte, Lars Peters Stieftochter, selbst einmal von ihrem eigenen Gesparten einen Nachttopf für die Familie. Aber die Mutter Sörine bemächtigt sich sofort des "Möbels": Es wäre Unsinn, für so etwas Geld auszugeben, aber wenn der Apparat nun einmal da war, wollte sie ihn in der Küche haben; dort fehlten ihr so oft Gefäße. "Mutter will es als Terrine haben, du wirst sehen", sagte Lars Peter leise.

Ich liebe dieses Buch; nicht wegen der Komik und nicht wegen der Tragik (die den weit größeren Teil ausmacht), sondern wegen der unlösbaren Verflechtung beider. Ich will es auch extra hier erwähnen (in Foren habe ich es schon mehrfach erwähnt), weil es ein Paradebeispiel dafür darstellt, dass ein wirklich einfühlsamer Autor auch Seelenzustände, die er (sollte man meinen) nicht mal von weitem kennt, glaubhaft wiedergeben kann. In einem Schreibforum hatte ich mich mal heftig in der Wolle mit einem Teilnehmer, der meinte, Männer sollten grundsätzlich nicht aus weiblicher Sicht schreiben und umgekehrt. Ich habe so meine Bedenken, aus männlicher Sicht zu schreiben, mache es auch nur selten, aber so zu pauschalisieren, ignoriert wahre Schreibkunst. (Für Forenschreiber mag es allerdings stimmen ...)

An Dittes Entwicklung vom Mädchen zur Frau ist kein einziger falscher Ton - und das aus der Feder eines männlichen Schriftstellers des vorigen Jahrhunderts; der Roman wurde m.W. um 1920 herum geschrieben. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass die erzählerische Distanz, die Andersen Nexö als erwachsener Mann zu einem pubertierenden Mädchen zwangsläufig hat, hier eher zum Wohl der Geschichte wirkt: Er schafft es, mit Empathie zu erzählen, ohne seiner Ditte zudringlich zu werden. Ditte bleibt immer sie selbst, Nexö ist nicht Ditte.

Ich kenne das Buch seit langem und weiß, dass bei Ditte das Unglück nicht nur den Fuß in der Tür, sondern längst einen bequemen Platz am Kamin hat ... und trotzdem lese ich es abermals mit Fiebern und Hoffen.

Blubbern als Kunst!

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