Wegger

Ich habe irgendwo, wahrscheinlich im Internet, kürzlich die Formulierung gelesen "ein lang genuges Stück Schnur".
Das gab die Inspiration für diesen Titel:


Cora und ihr wegger Hase

Auf dem Bürgersteig gegenüber stand eine Pendeluhr, daneben ein dreibeiniger Hocker. Cora bemerkte das, als sie morgens beim Kaffeekochen aus dem Fenster schaute. Eine Viertelstunde später war ein Polstersessel dazugekommen, von einer Farbe wie kalter Haferbrei.
Bestimmt zog da jemand aus.
Der Tag versprach sonnig zu werden – ein seltenes Glück im späten Oktober. Cora nahm sich nach dem Frühstück die paar Minuten Zeit, den Hasenkasten in den Vorgarten zu tragen. Ihrem schwarzen Zwerghasen Vitali gefiel der neue Platz in der Sonne. Als Cora das Haus verließ, sah sie ihn in seiner ganzen Pracht oben auf seinem Schlafhäuschen sitzen. »Pass mir gut aufs Haus auf, Vitali!«, sagte sie neckisch. Manchmal stellte sie sich mit Genuss vor, wie Vitali den Briefträger biss. Coras Briefträger war zufällig ein breitschultriger junger Mann mit Goldringen in beiden Ohren, der aufregend mit dem Briefkastentürchen zu klappern verstand, wenn er Coras Post brachte. Schade, dass er meistens am späten Vormittag kam, wenn sie selbst noch im Geschäft war ... Heute würde sie sich besonders bemühen, spätestens um halb zwölf zu Hause zu sein, nahm sich Cora vor. Sie würde sich im Vorgarten aufhalten, wenn die Post kam; Vitali war ein guter Vorwand. Sie würde ganz zufällig draußen stehen und Vitali streicheln. Die Sonne schien, die Ohrringe blitzten ...
Als Cora um viertel vor zwölf mit ihrem Kleinwagen an den Straßenrand fuhr, waren die Standuhr, der Hocker und der haferbreifarbene Polstersessel verschwunden. Ebenso auch ihr Hasenkasten mitsamt Vitali.
Vergessen war der Briefträger. Cora stürzte auf die Straße hinaus und blickte wild um sich. War Vitali ausgerissen? Aber dann stünde der Hasenkasten doch noch da. Gab es das, dass Hasen abhauten und den Stall mitnahmen?
Eben wanderte ihre Nachbarin von gegenüber – ein gebeugtes Frauchen mit weißem Pudelhaar – aus dem Haus und an den Straßenrand. Sie trug ein krummbeiniges Bobbycar.
»Die sind schon weg«, verkündete sie mit tiefer Stimme, erstaunlich tief für eine so kleine Person. Es klang wie Rabengekrächz. »Haben Sie was rauszustellen vergessen?«
»Sperrmüllabfuhr?«, hauchte Cora.
»Bis jetzt haben sie nur Holz und Metall abgeholt.« Das Bobbycar plumpste neben den Kantstein. »Wenn Sie was aus Plastik haben, stellen Sie es halt hin.«
Oh verdammt. Cora schlug sich vor die Stirn. Vitali! Der arme Kerl hatte sich sicher, als der Sperrmüllwagen mit Dröhnen und Rasseln herankam, im Schlafhäuschen verkrochen. Die Müllmänner hatten gedacht, der Hasenkasten sei leer. Und dann ...
»Sie sehen aus, als sei Ihnen was weggekommen?«, krächzte der weißhaarige Rabe. »Dann beeilen Sie sich mal, vielleicht holen Sie den Wagen noch ein. Die drücken alles platt, damit mehr reinpasst.«
Vitali platt gedrückt! Cora warf sich in ihr Auto und raste los. Erst drei Straßen weiter fiel ihr ein, dass sie nicht wusste, in welche Richtung der Sperrmüllwagen seine Tour absolvierte. Von oben nach unten in die Straße oder umgekehrt? Der Bürgersteig war hier jedenfalls frei von Sperrmüll. Um die nächste Ecke – da stand ein Teleskop aufrecht am Kantstein. Beinahe hätte sie es umgefahren.
Überholt hatte sie den Sperrmüllwagen nicht. Folglich musste er ihr hier entgegenkommen. Und das Teleskop abholen. Erheblich langsamer trudelte Cora zur nächsten Ecke. Da standen zwei kaputte Plastikwäschekörbe.
Plastik! Verdammt! Das war ja sowieso noch nicht abgeholt. Sie machte kehrt. Neben dem Teleskop stand jetzt ein Kerl im Blaumann und lud das Ding auf seine Handkarre, auf der schon eine ölverschmierte Nähmaschine und das Bobbycar der Rabendame standen. »Ich war zuerst da! Ich hab’s zuerst gesehen!«, rief er Cora entgegen, als sie ihr Fenster herunterkurbelte.
»Ich will das Mistding nicht«, schnauzte sie zurück. »Wo ist denn der Holzmüllwagen? Ist der schon hier durchgekommen?«
»Klaro. Alles schon weg. Alles Pressspan«, fügte er boshaft hinzu, als er Coras entsetztes Gesicht sah.
Vitali Pressspan. Cora kreuzte noch eine Viertelstunde hin und her durch die Straßen, jagte um die Ecken und plättete durchlöcherte Nachttöpfe und Zinkbadewannen. Dann gab sie es auf. Es war nichts Hölzernes mehr am Straßenrand, weit nicht und breit nicht.
Sie jagte zur Gemeindeverwaltung und parkte im Halteverbot direkt vor der Tür. Eben kam eine junge Frau im Trench heraus und schickte sich an abzuschließen. Und das am Freitag um zwölf, so viel zum öffentlichen Dienst! Cora fuhr auf sie nieder wie ein Adler auf die Maus. »Bitte«, stieß sie hervor, »wo wird der Sperrmüll hingebracht? Schnell!«
»Emm«, sagte die Frau. »Holz oder Plastik?«
»Holz! Holz!!«, schrie Cora.
»Emm. In den Gemeindebauhof. Da drüben hinter dem Sportplatz. Aber geben Sie sich keine Mühe, wenn Ihnen was weggekommen ist«, fügte die Trenchfrau hinzu, »das ist bestimmt alles, emm, schon durch die Presse gelaufen.«
Vitali durch die Presse gelaufen. Cora stürzte sich in ihr Auto. Links herum am Sportplatz vorbei, über eine rote Ampel und in die falsche Richtung durch eine Einbahnstraße ... egal. Der Gemeindebauhof präsentierte ihr eine große geöffnete Toreinfahrt, in der ein LKW stand. Die Ladefläche war leer.
Alles abgeladen. Und Vitali war platt.
Diese Dreckskerle, die keinen Blick darauf warfen, was ihnen überhaupt unterkam! Die alles unterschiedslos durch die Presse jagten! Cora schoss aus ihrem Kleinwagen und riss die Beifahrertür des LKW auf. Da saß ein kleiner Junge, der aussah wie kaum sechzehn, blond und sommersprossig, und kaute an einem Salamibrot.
Cora stockte. Nein, an dem durfte sie sich nicht vergreifen. »Wo ist dein Chef?«, raunzte sie.
»Hm-hm«, muffelte der Junge mit vollen Backen und zeigte mit dem Daumen nach hinten. Da war aber niemand, nicht mal eine Rückbank für Mitfahrer. Cora knallte die Tür zu und ging mit langen Schritten um den LKW herum.
Am hinteren Ende, an die Ladefläche gelehnt, stand ein Riesenkerl, ein Schrank von einem Mann, mit Glatzkopf und blau tätowierten Armen, und hielt in seinen bügelbrettgroßen Pranken einen kleinen schwarzen Hasen. Er drückte ihn zärtlich an sein Gesicht. Vitalis Nase ging auf und nieder. Er sah aus, als ginge es ihm ausgezeichnet.
»SIE!«, sprach Cora drohend.
»Ist das Ihrer? Hier bitte«, erwiderte der tätowierte Riese aufgeschreckt und drückte ihr das Tierchen in den Arm. »Sagen Sie, wo kann man denn so ein Häschen kaufen? Und was frisst es? Braucht es viel Auslauf? Gibt es das auch in Weiß?« Er fragte unablässig weiter, als Cora schon längst den Rückzug angetreten hatte.
Sie setzte Vitali auf die Rückbank in ihrem Kleinwagen und hoffte innig, dass er still hielte, solange sie fuhr. Unterwegs überholte sie den Briefträger mit seinem postgelben Fahrrad und den goldenen Ohrringen. Er winkte ihr zu und zeigte eine blitzblanke Reihe Prachtzähne. Wenn der mal nicht Vitali biss statt umgekehrt.

Blubbern als Kunst!

brille

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"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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