Der Ärmste.

Paul liebt seine Mutter über alles. Keiner seiner Schulfreunde kann sich rühmen, eine Mutter zu haben, die ein heruntergekommenes Holzhaus gekauft und ganz allein frisch gestrichen, renoviert und möbliert hat, dazu rundherum einen Garten angelegt, der seinesgleichen sucht ... (und dabei verdient sie auch noch ihren Lebensunterhalt selbst, hat sogar ein eigenes Geschäft). Voll Stolz zeigt sie ihm eines Abends, kurz vor den Schulferien, eine Gartenecke, wo sie eine seltene Orchideenart angesät hat, die Gymnadenia. Über die Ferien geht Paul allein auf Wanderschaft, gemeinsam mit einem Freund ist er drei Wochen unterwegs. Die Gymnadenia wird unterdessen in seiner Phantasie zu einer Wunderblume; er erwartet, die Gartenecke zu exotischer Pracht verwandelt zu sehen. Bei seiner Rückkehr findet er die Blütenzweige der Gymnadenia in seinem Zimmer, von der Mutter in eine Vase gestellt. Es sind winzige weiße Blümchen, die kaum mehr hermachen als Maßliebchen ...
Nichts ist so groß, wie es scheint. Auch seine Mutter nicht, wird ihm später klar.
Als Erwachsener beurteilt Paul seine Familienverhältnisse (die Eltern wurden geschieden, als er noch ganz klein war) gelassener, sieht auch die neue Stiefmutter etwas weniger streng an, wie er sich überhaupt selten herbeilässt, über Mitmenschen Urteile zu fällen. Gesellschaftliche Dummheiten quittiert er mit Ironie, irgendwelche guten Ratschläge nimmt er sowieso nicht an, es sei denn von seiner Mutter, und auch die sieht er mit der Zeit mit etwas mehr Distanz an. Dann nämlich, als er beginnt, sich zum Entsetzen seiner Familie dem katholischen Glauben zuzuwenden: Niemand, dessen ist er sicher, weiß irgendetwas über ihn; niemand kann ihm sagen, was er tun soll, was er anfangen soll mit seinem Leben. Schon gar nicht jemand, der ihm nicht mehr voraushat als ein paar Semester Theologiestudium. Von einem evangelischen Priester nimmt er folglich keine Ratschläge an. Auf wen soll er hören? Nur auf Weisheit, die von direkt von Gott kommt. Sein Weg führt unaufhaltsam und logisch in die katholische Kirche zu den geweihten Priestern.
Doch der Weg bis dahin ist lang. Pauls erste Freundin lässt ihn sitzen, als er dienstreisehalber ein paar Monate weg muss. Bei seiner Rückkehr ist auch sie weg - nicht mal eine verständliche Erklärung findet er. Ein paar Jahre später findet er sich verlobt mit einer Achtzehnjährigen mit Spatzenhirn. Vermutlich ist einer ein geborener Fisch; er wehrt sich nicht, kommt sich vor wie in einem Theaterstück, spielt seine Rolle in dem festen Glauben, es werde sich schon irgendwie einrenken. Nichts renkt sich ein und im Nu ist Paul mit einer Frau verheiratet, die das geistige Niveau einer Nachmittagstalkshow mitbringt. Er arrangiert sich, macht Dienstreisen (inzwischen ist er selbständiger Unternehmer), fühlt sich am wohlsten, wenn er von zu Hause weg ist, lässt im übrigen seiner Frau ihren Willen. Bezeichnend, wie sie beide Paris besuchen: Sie mag nirgends hingehen, wo keine Läden sind; die beiden kommen nicht mal in Notre-Dame. Bezeichnend aber auch, wie Paul alles um sich herum - die platterdings unerträgliche Ehefrau, mit der er immerhin zwei wohlgeratene Kinder hat, die nicht weniger unerträgliche Schwester, die angepinselte Stiefmutter, die entsetzlich bornierte Frau seines Geschäftspartners, den jüngeren Bruder, der Pianist werden will, und überhaupt all das erträgt. Keiner ist darunter, der ihm irgendetwas sagen kann, was sein Leben verbessern könnte; mit keinem kann er auch nur reden. Es gibt überhaupt keine Autorität, kein Besserwissen. Das gibt es nur bei Gott, damit muss er sich abfinden. Und so wird Paul Katholik. Nach und nach, und irgendwann konvertiert er.
Was Pauls Geschichte außergewöhnlich macht, so außergewöhnlich, dass ich eine Woche lang nur Paul war, Paul lebte und Paul atmete - das ist die Distanz, in die mich jene unsichtbare Person zwingt, die mir seine Geschichte erzählt. Letztlich scheint ihn nichts, was um ihn herum oder ihm selbst passiert, etwas anzugehen. Selbst als seine Frau, von er er sich wegen seines Glaubens nicht scheiden lassen kann, ihm tränenreich das Kind eines anderen Mannes unterschiebt - zu allem Übel ein geistesschwaches und körperbehindertes Kind -, nimmt er alles entgegen, wie es kommt. Er duldet keine Einmischung und verurteilt niemanden. Ein wahrer Christ. (Seine entsetzlichsten Momente sind die, als ihm seine reuemütige Frau auf den Knien versichert, er sei ein wahrer Christ!)
Doch!! - da ist ein Leitmotiv, das immer wieder auftaucht - die Randbemerkung "Die Ärmste". Seine erste Braut, die es nie verstanden hat, sich richtig anzuziehen - Jahre später begegnet er ihr wieder und vermerkt als erstes, dass sie noch immer weiße Schuhe trägt, die die Größe ihrer Füße unvorteilhaft betonen. Die Ärmste, noch immer kann sie sich nicht anziehen. Seine Schwägerin, die einst eine gefeierte Sängerin war (oder sich einbildete, eine solche zu sein) und immerfort erzählt, welche Karriere sie ihrer Ehe opferte - die Ärmste. Die Schwester, die den falschen Mann geheiratet hat, die Stiefmutter, die immer die gleichen weißen Perlstecker in ihren dicken Ohrläppchen trägt (sogar das bemerkt er!) - die Ärmste!
Paul ist durch und durch durchsetzt mit der schlimmsten aller Todsünden, dem Hochmut. Kniend unterwirft er sich der göttlichen Allmacht; er schluckt alles, wie es kommt - aber das Stichwort "die Ärmste" durchzieht seine sämtlichen Kontakte zur Außenwelt. Die Erzählerin, die ihn schildert, war ihr das bewusst? Hat sie die Litanei seiner Ärmsten absichtlich so eingesetzt? Oder ist dieses Stichwort ein Bug, mit dem sie nicht nur ihren Helden, sondern auch sich selbst bloßstellt ...?
Und ich mustere besorgt meine eigenen schriftstellerischen Ergüsse. Was verraten sie über mich?
Wikipedia behauptet, die norwegische Literaturnobelpreisträgerin Sigrid Undset würde heute in Deutschland kaum noch gelesen. Ich halte dagegen und empfehle nicht nur ihren Mittelalter-Roman "Kristin Lavranstochter" (kenne ich seit meiner Studentenzeit, einer der ganz wenigen historischen Romane die mir wirklich gefallen haben), sondern auch und vor allem "Gymnadenia" und "Der brennende Busch", die Romane um Paul. Gymnadenia beginnt kurz vor der Jahrhundertwende - der vorletzten, nicht der letzten -; der zweite Band endet zwischen den beiden Kriegen. Vermutlich bekommt man die Bücher nur noch antiquarisch. Ich habe sie, in schöner Lederbindung, vom Speicher meiner Eltern gerettet, ehe das Haus verkauft wurde, und war eine Woche lang nur Paul.

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