Das kleine Hotel

Das kleine Hotel steht in bester Lage am Rand eines aufgelassenen Friedhofs mitten in der Innenstadt. Ursprünglich war es eine öffentliche Bedürfnisanstalt, und daher rührt die schlichte Bauweise mit zwei Abteilungen links und rechts und einem Durchgangsraum in der Mitte. Ich habe der Stadt das Gebäude abgekauft und renoviert. Früher hatte ich eine rote Leuchtschrift auf dem Dach angebracht, die weithin verkündete, dass hier ein Zimmer frei sei. Inzwischen ist dieses eine Zimmer ständig belegt, so dass ich die Leuchtschrift abgeschaltet und schließlich ganz entfernt habe. Die Gäste folgen einander so dichtauf, dass ich kaum Zeit habe, das eine Bett abzuziehen und neu herzurichten; es ist meistens noch warm von dem letzten Gast, da tritt auch schon der nächste ein, den Rollenkoffer hinter sich herziehend, die gepolsterte Laptop-Tasche über die Schulter gehängt, und verlangt nach dem Zimmer.

Gleich hinter der Eingangstür wartet die mit rotem Samt und dunklen Eichenmöbeln ausgestattete Lobby, wo ich den Gast empfange, ihm die notwendigen Formulare zum Ausfüllen hinreiche und den einzigen Schlüssel von dem Brett hinter mir nehme, um ihn auf der Theke bereitzulegen. Mehr als dieses eine Zimmer, das rechts von der Lobby liegt (ehemals »Damen«) habe ich nicht; in dem anderen links davon (ehemals »Herren«) schlafe ich selbst, und meinen Schlüssel trage ich ständig bei mir. Hinter der Lobby schließlich liegt der Frühstücksraum, wo ich dem Gast morgens zwischen sieben und zehn ein reichliches Frühstück anbiete, mit drei Sorten Müsli, Marmelade, Käse, Wurst und Schinken; mit frischen Brötchen, in Scheiben geschnittenem Vollkornbrot, Croissants und Rührei; es ist für jeden Geschmack etwas dabei. Das Frühstück hat mir anfangs oft Kopfzerbrechen verursacht, denn ich muss alles bereitstellen, weil niemand vorher wissen kann, was der Gast verlangt. Zum Beispiel äußert ein französischer Gast, der eigentlich mit Croissants und Butter zufrieden sein sollte, plötzlich Appetit auf ein englisches Frühstück, oder ein Besucher aus Schweden, der Knäckebrot und Bückling essen sollte, möchte Toast und Marmelade haben. Inzwischen habe ich mir aber angewöhnt, einfach alles auf den Tisch zu stellen.Was übrig bleibt, esse ich selbst, und meistens reicht es mir für den Rest des Tages, so dass ich nicht mehr kochen muss.

Eine andere Schwierigkeit ist die mangelnde Auswahl an Zimmern, denn da ich nur ein einziges Zimmer habe, kann ich dem Gast nicht anbieten, in ein anderes zu wechseln, falls ihm das Bett zu hart oder zu weich oder nicht exakt gemäß der Erdstrahlung ausgerichtet sein sollte. Auch dafür habe ich eine Lösung gefunden; ich gebe dem Gast in diesen Fällen einfach mein eigenes Zimmer und ziehe in das Gastzimmer um. Damit das leicht vonstatten gehen kann, sind beide Zimmer gleich eingerichtet. Außerdem achte ich sorgfältig darauf, nicht mehr Besitztümer anzuhäufen, als in einen Koffer passen. Wenn der Gast gegen Mitternacht in der Lobby die Glocke schlägt, springe ich sofort hellwach aus dem Bett, und in Minutenschnelle habe ich alles aus den Schränken geräumt und in den Rollenkoffer geworfen; auch das Bad ist sofort geleert, frische Handtücher an den Heizkörper gehängt, und eingepackte Seifenstücke liegen ohnehin immer bereit. Ich besänftige den aufgebrachten Gast, der eben in dem ihm angewiesenen Zimmer einen Klopfgeist gehört hat oder wegen eines lärmenden Betrunkenen unter seinem Fenster nicht einschlafen kann; ich rolle meinen eigenen Koffer hinüber, bin dem Gast beim Einpacken und Umziehen behilflich, und binnen einer Viertelstunde haben wir die Zimmer getauscht; ich muss nur meinen Zimmerschlüssel, mit einer hölzernen Birne versehen wie der Schlüssel des Gastes, an das Regal in der Lobby hängen.

In den schlaflosen Morgenstunden kommt mich manchmal die Lust an, darauf zu bestehen, dass nun ich der Gast sei, da ich das Gästezimmer habe. Ich werde mich in das Frühstückszimmer hinter der Lobby hineingähnen, mich mit Müsli und frischem Obst, Vollkornbrot und Rührei, ausgebratenem Speck, Käse und Schinken bedienen; am besten so reichlich, dass für den anderen, der nunmehr der Gastgeber ist und sich an die Reste halten muss, kaum etwas übrig bleibt. Nach dem Frühstück werde ich meinen Rollenkoffer packen, in die Lobby treten und die Rechnung verlangen, und hinter mir wird das zerwühlte Bett bleiben, die nassen Handtücher auf dem Boden, die leere Klopapierrolle am Halter, die verschmierten Zahnputzgläser, die leeren Weinflaschen im Papierkorb. Vielleicht werde ich einen nett formulierten Eintrag im Gästebuch hinterlassen. Wahrscheinlicher aber ist, dass ich mich beim Auschecken, noch immer gähnend und die Laptoptasche über der Hüfte zurechtrückend, beschweren werde; über den Klopfgeist, das schlechte Wetter, den lückenhaften Internetempfang, den Zimmerservice und die klemmenden Fensterflügel, die einfach nicht aufgehen wollen, um mich wie eine Luftblase endgültig zu entlassen.

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