Konzert ohne letzten Satz *)

Der Konzertsaal war nur in der vorderen Hälfte erleuchtet.
Die ersten vier Reihen waren leer. In der fünften saßen mittig der Bürgermeister mit grün gestreiftem Schlips, seine Gattin im Chanel-Kostüm, die Wahlkreisabgeordnete mit Ehemann und der Präsident der Musikakademie mit Gattin und drei Dozenten.
Mit schläfrigen Mienen warteten sie auf den Beginn des Konzerts.
Die Instrumente waren noch mit Stimmen beschäftigt. Der Gastdirigent auf seinem Podium ließ sie gewähren und blätterte in seiner Partitur, dass die Papiere nur so flogen.
»Warum ist der denn so hektisch?«, wunderte sich das Fagott und nahm das erste Notenblatt in Augenschein. Stimmte etwas damit nicht? Der Verhau aus Punkten und Strichen im Gewirr der Notenlinien sah aus wie immer. Auf dem zweiten Notenblatt hing an der mittleren Linie eine schöne lange Pause; so lang, dass sie in der Mitte durchhing wie ein Stück Spaghetti.
Das Fagott warf einen Blick auf die Noten seiner Nachbarin, der Oboe. Doch die Oboe hatte bereits den zweiten Satz des Konzerts aufgeschlagen und übte mit verzweifeltem Quietschen ein letztes Mal ihre Läufe.
Das Fagott wandte sich an sein Nachbarfagott, das seine Noten ordnete, verrutschte Pausenzeichen geraderückte und versetzte Versetzungszeichen zum Sitzenbleiben mahnte. »Wie lang sollen wir denn noch dicke Backen machen hier? Ich will anfangen!« Der Bürgermeister und die Wahlkreisabgeordnete und der Präsident der Musikakademie samt Gatten und Gattinnen lehnten bereits mit geschlossenen Augen in ihren Sitzen. Endlich klopfte der Gastdirigent an sein Pult, hob sein Stöckchen und gab den Einsatz. Alles trötete, fiedelte und trommelte drauflos. Das Fagott untermalte mit lustvollem Blöken.
Als die erste Seite zu Ende war, durfte das Fagott in die wohlverdiente Pause gehen oder vielmehr sitzen. Es ließ faul das Mundstück hängen und die Blicke schweifen.
Das Konzert war sehr modern. Der Bürgermeister und die Wahlkreisabgeordnete saßen mit zusammengepressten Lippen. Der Präsident der Musikakademie hatte die Augen zur Decke gerichtet. Der Dirigent gab sich große Mühe. Es spielten auch alle korrekt, was in den Noten stand; sogar das Fagott machte während seiner Pause keinen einzigen Fehler. Aber das wusste keiner der Zuhörer zu würdigen, da etwelche Misstöne ohnehin nicht aufgefallen wären.
Nach dem ersten Satz hatte das Publikum Gelegenheit zum Räuspern und Stühlerücken. Die zweite Geige flüsterte der ersten zu: »Du bist ganz verstimmt.« Doch die erste Geige wehrte verstimmt ab: »Ich bin nicht verstimmt, das steht so hier. Halt jetzt mal den Rand!« Denn eben gab der Dirigent den Einsatz zum zweiten Satz.
Die zweite Geige ärgerte sich und klang nun auch verstimmt. Der Bürgermeister und die Wahlkreisabgeordnete und der Präsident der Musikakademie sahen auch schon etwas verstimmt aus. Das Horn wand sich. Die Posaune wurde immer länger. Das Fagott hatte Pause.
Nach dem Ende des zweiten Satzes waren auch die Notenblätter zu Ende.
Der letzte Satz fehlte.
Alle Augen richteten sich auf den Dirigenten. Der Dirigent nahm die Notenblätter auf seinem Pult in beide Hände, stieß sie zusammen und drehte sie um, so dass sie auf dem Kopf standen. Mit heftigem Winken zum Orchester forderte er die Musiker auf, es ihm nachzumachen.
»Pfffff!«, machte das Fagott. Aber sogar die alte Bassgeige ein Stück weiter links gehorchte, legte die Noten verkehrt vor sich hin und machte Miene, sich in ein erbarmungswürdiges Flageolet zu stürzen. So wendete auch das Fagott seine Blätter, und der dritte und letzte Satz begann. Die Oboe nebenan verzweifelte fast an ihren Läufen. Alle b’s waren plötzlich q’s. Nur die Doppelkreuze sahen aus wie gewohnt. Das Fagott brummelte nur ein wenig herum und hörte dann auf, denn es hatte wieder esuaP.
Endlich gab der Dirigent das Schlusszeichen.
Erschöpft zog er ein großes weißes Taschentuch aus der Fracktasche. Ein Knoten war hineingeknüpft. Er betrachtete ihn erstaunt, löste ihn auf und wischte sich die Stirn ab.
Die wenigen Zuhörer richteten sich in ihren Sesseln auf, drückten das Kreuz und das Auflösungszeichen durch und überdachten, was sie gehört hatten. Der Bürgermeister hatte eine undurchdringliche Miene aufgesetzt. Die Wahlkreisabgeordnete zog ein Pokerface. Die Gatten und Gattinnen sowie die drei Dozenten sahen nach gar nichts aus.
Endlich erhob sich der Präsident der Musikakademie von seinem Sessel, ging mit gemessenem Schritt auf den Gastdirigenten zu und sprach:
»tethcuelre etfläH neredrov red ni run raw laastreznoK reD.«

__________________________
*) für Marec Bela Steffens, den Kater

Blubbern als Kunst!

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(Meridian 2/2012)

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