Warum stirbt Javert?

Die beiden Männer sind Feinde seit jeher. Der eine lebt unter falschem Namen, so gut es geht; der andere hat Recht und Gesetz auf seiner Seite.
Der erste hat den zweiten zweimal in der Hand und lässt ihn zweimal am Leben, obwohl er sich damit immer wieder aufs Neue der Unsicherheit seiner illegalen Existenz ausliefert.
Man weiß, dass wir einem Menschen, der uns mit Hass verfolgt, nichts Schlimmeres antun können als etwas Gutes.
Am Ende sind die Rollen vertauscht. Der Polizist richtet die Waffe auf den ehemaligen Sträfling. Jetzt endlich kann er sich rächen für die erlittenen Demütigungen, und er kann es sogar unter dem Schutz des Gesetzes tun.
Er tut es nicht. Er nimmt dem Sträfling die Fesseln ab, schubst ihm von sich weg, legt sich selbst die Fesseln an (es sind Handschellen) und stürzt sich rückwärts in den Fluss.
Warum tut er das?
Ich habe das entsprechende Kapitel in "Les Misérables" eben noch einmal nachgelesen und glaube, er tut es, weil er sich in einem simplen Dilemma befindet: Ausliefern kann er den Sträfling nicht, der ihm nur Gutes erwiesen hat. Laufen lassen kann er ihn aber auch nicht, da er damit seine Existenz als obrigkeitsgehorsamer Polizist vernichtet. (Damit ist nicht Angst vor Degradierung und Strafe gemeint, sondern die Zerstörung eines Weltbildes.)
Der Film, den ich vorhin gesehen habe - darin kommt die Szene mit dem Fluss vor; im Buch läuft der Selbstmord Javerts etwas anders ab -, erlaubt noch eine andere Deutung, eine mehr psychologische, und ich habe selten einen so unglaublich gelungenen Kunstgriff im Film gesehen. Wie im Buch hat sich Valjean eine Weile entfernt; Javert hat Zeit zum Nachdenken. Valjean hat ihn mindestens zweimal tief gedemütigt. Selbst als Javert ihm die Pistole an den Kopf hält, reagiert er kaum; er äußert keinen Hass, keine instinktive Abwehr. "Ich hasse Sie nicht. Ich empfinde nichts."
Javert, der einen großen Teil seines Lebens der Jagd nach Valjean gewidmet hat - man sieht ihn nie etwas anderes tun als Verbrecher jagen und vorneweg den verhassten ehemaligen Sträfling -, steht vor einer psychologischen Zwickmühle, die viel schlimmer ist als bloß der Gewissenskonflikt zwischen Menschlichkeit und Beamtenpflicht. Er kommt Valjean rein menschlich nicht bei. Der Mensch Valjean bleibt ungerührt derselbe, egal, was Javert tut. Er reagiert überhaupt nicht auf Javert. Valjean ist so eingekapselt in seine Menschlichkeit, dass Javert nicht zu ihm durchdringt. Selbst, als Javert am Seineufer die Waffe auf ihn richtet, sind die beiden nicht wirklich beieinander; Valjean könnte am anderen Ende der Welt sein.
Er kann sehr gut ohne Javert auskommen. Aber Javert nicht ohne ihn.
Wahrscheinlich ist der Film ein uralter Hut, aber ich kannte ihn bisher nicht und bin überzeugt, besser kann man eine solche Szene nicht gestalten.
Übrigens gibt es einen sehr interessanten Ausspruch von Valjean, von dem ich nicht sicher bin, ob er auch im Buch vorkommt. Er sagt sinngemäß zu Javert: "Ich soll Sie bestrafen. Dann nehmen Sie meine Verzeihung als Strafe an."

Und nun werde ich mir das Buch noch einmal vornehmen.
Sobald ich mit meinem Krimi fertig bin.
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"Les Misérables", Regie: Bille August, 1997.

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