Kopf ab

Auf dem Speicher

Ein Karton voller Hefte und alter Briefe. Schulzeugnisse, die ich nicht ansehen mag – damals gab es noch Noten für Aufmerksamkeit, Fleiß, Betragen und Ordnungsliebe. Halb zerrissene Kinderbücher. Ein Märchenbuch mit dreidimensionalen Bildern, die sich wie durch Zauberhand erheben, wenn man eine Seite umschlägt. Rotkäppchen und der Wolf. Dem Wolf fehlt der Schwanz. Dem Jäger die Flinte.
Die Abizeitung, Notenhefte, Zeichenmappen. Sieben Abzüge eines unbeholfenen Linolschnitts, alle gleich miserabel. Stockfleckige Fotos meiner alten Klasse – mindestens dreißig Jahre alt. Und dazwischen ein abgegriffenes, angeschmuddeltes Tierchen, mit klumpiger Watte ausgestopft.
Es soll wohl ein Pferd darstellen – mit Mähne und Schwanz aus schwarzen Wollfäden. Wahrscheinlich war es als Schlüsselanhänger oder Glücksbringer gedacht. Denn um es zum Kuscheln mit ins Bett zu nehmen, ist es viel zu klein.
Wenn ich die Finger darum schließe, ist es perfekt der Form meiner Hand angepasst. Von vielen, vielen heißen schwitzigen Griffen, Hilfe und Trost suchend. Bei der Fahrprüfung. Bei den Abiklausuren. In der mündlichen Prüfung habe ich es in der hinteren Hosentasche bei mir gehabt. Beim Examen auch. Nein, da habe ich einen Rock getragen, das Pferdchen war in der Jackentasche. Beim Vorstellungsgespräch war es dabei und gab der nervös zupressenden Faust angenehmen Widerstand. Bei meiner Hochzeit steckte es in dem weißen Spitzenbeutel. Irgendwann hat es versagt. Wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Hochzeit. Nach der Scheidung habe ich es auf den Speicher getragen und in den Karton gestopft.
Wer hat es für mich gemacht? Es ist gehäkelt. Ich kann nicht häkeln. Habe es nie gekonnt.
Die Klassenfotos, die Freundinnen – kein Gesicht ruft „Ich“. Keines verspricht mir ein Pferdchen, das mich um alle Ecken und Kanten des Lebens tragen wird.
Es könnte ein wenig Pflege vertragen. Mähne und Schwanz sind verfilzt, das Fell glanzlos, der Bauch unförmig und verbeult, wo ich zu heftig gespornt habe in meinen Ängsten und Hoffnungen.
Ich nehme es mit nach unten und versuche es mit warmer Seifenlauge zu waschen.
Es geht nicht.
Der Kopf fällt ab und die Füllung quillt heraus.
Nass und klumpig.

Blubbern als Kunst!

brille

Wort des Monats

"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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