Tintagel

Sie hat dem Hund das Gatter geöffnet, ohne darüber nachzudenken. Das Gatter unterbricht den Drahtzaun, der sich links und rechts durch die Klippen zieht. Es ist ein einfaches, etwas schief hängendes Tor aus Holzlatten. Man muss das ganze Tor anheben, um den Riegel in seinem Gehäuse zurückzuschieben. Der Hund schwänzelt hindurch und blickt sie auffordernd an. Es ist ein schwarzer Hund, etwa kniehoch, mit lockigem Fell und abgeknickten Ohren. Er rennt weiter auf dem Klippenpfad, ohne sich umzusehen. Sie schließt das Gatter wieder, mit Achselzucken und etwas angegriffenem Lachen. Jedes Gatter, belehrt der Reiseführer, ist so zu belassen, wie man es vorgefunden hat.

Etwa hundert Meter vor ihr bewegt sich eine Familie mit zwei Kindern vorwärts. Deutsche wie sie – schon in der Burgruine, Stunden vorher, ist sie ihnen begegnet. Und weit hinter ihr schleicht ein altes Ehepaar dahin mit Rucksäcken und Teleskopstöcken. Es sind Briten – auch das weiß sie, denn sie hat die beiden eine halbe Stunde zuvor überholt. Der schwarze Hund mit den Knickohren scheint zu keiner der beiden Gruppen zu gehören. Leichtfüßig rennt er ins Gebüsch, ohne Furcht, sich an den Dornen zu reißen. Er bleibt stehen, hebt ein Bein, macht flüchtig irgendwas (es kann nicht mehr sein als ein Spritzer) und rennt schon wieder los auf seinen unerforschlichen Pfaden. Hin und her, vor und zurück. Sie wandert weiter auf dem Klippenpfad dahin; mit jeder Kehre tut sich eine neue Aussicht auf, ein grelles Feuerwerk von frühlingshaftem Sonnenlicht auf dem Wasser, kohlschwarze Schlagschatten in den Senken, funkelnde Grasbüschel, die sich mal so und mal so herum wenden in den Wirbeln der Luft, am Himmel taumelnde Möwen. Wind braust um ihre Ohren. Der Hund legt die vierfache Strecke zurück, weil er immer vorwärts und rückwärts läuft. Er bewegt sich sternförmig in alle Richtungen, kehrt kurz zu ihr zurück und rennt wieder davon zu unbekanntem Ziel. Er muss doch jemandem gehören, sagt sie sich und hält Ausschau, ob der Hund irgendeine Menschengruppe oder einen einsamen Wanderer im Auge behält, sich vergewissert, wo seine Meister sich aufhalten; es gibt ja genug Wanderer hier. Aber der Hund kümmert sich um nichts. Auch um sie nicht wirklich. Sie ist lediglich der Mittelpunkt einer sehr weit gefassten Spirale, die der Hund beschreibt; er bewegt sich zwar mit ihr fort, spricht aber nicht mir ihr.

Sie öffnet und schließt ein weiteres Zaungatter, lässt den Hund dabei mit durch und beschließt bei dieser Gelegenheit, so zu tun, als sei es ihr Hund. Das ist so leicht. Ja, und es ist nett. In Gedanken nennt sie ihn „Artus“, spricht ihn aber vorsichtshalber nicht mit Namen an. Jedes Mal, wenn er sie im Vorbeirennen flüchtig streift mit seinem unermüdlichen Hin und Her, streicht sie mit der Hand über das krause Fell und sagt in Gedanken „Artus“. Auf der Höhe der Uferklippen scheucht er eine Herde Ponys auf, die erschreckt davongeloppieren. „Artus“, rutscht es ihr erstmals laut heraus, und lauter: „Artus, lass das!“, ein sinnloser Befehl; er gehorcht nicht. „Take your dog, please!“, ruft ein Wanderer hinter ihr. Sie ruft zurück: „He isn’t mine!“
Wer soll das glauben, nachdem sie ihn mit Namen angeredet hat?

Auf dem Rückweg überlegt sie, wie sie den Hund loswerden kann. Der Hund ist ganz selbstverständlich mit ihr umgekehrt. Er begleitet sie mit Abstand, kreiselt weit um sie herum wie ein Leibwächter. Wo gehört er hin? Er trägt ein Halsband, sieht nicht ungepflegt aus; irgendwer muss ihn doch wollen. Irgendwer. Sie öffnet und schließt die beiden Gatter und lässt beide Male den Hund durch; das zweite Gatter macht sie hinter ihm zu und wendet sich rückwärts über eine Brachwiese Richtung Hotel. Ha, ausgetrickst, denkt sie. Minuten später rennt der Hund an ihr vorbei. Er muss unter dem Gatter durchgekrochen sein und macht triumphierende Sprünge über die Wiese. Was soll sie tun? Die Hotelrezeption, denkt sie, oder der Tierarzt am Ort; sie wird nachfragen müssen, ihr Problem schildern. In Gedanken legt sie sich Sätze zurecht und verflucht ihr schlechtes Englisch. Who knows this dog? He isn’t mine. His name is Artus. No. I only imagined that. Mit einem Mal hat sie ihn aus den Augen verloren; er hat sich verflüchtigt in der Weite der Brachwiesen. Sie geht langsamer, aber er kommt nicht zurück. Das Tintagel Hotel, ein Klotz mit flatternden Fähnchen, begrüßt sie von weitem. Hunde sind dort verboten. Sie zockelt mit müden Füßen über die Auffahrt und schaut dabei ringsumher. Ein letztes Mal mit dem Türgriff in der Hand.

Blubbern als Kunst!

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"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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