quilting bee

"sommeil"

Er steht immer am selben Platz an einer ziemlich dunklen Stelle unter der Brücke. Aber das Glas Wein, das er in der Hand hält, leuchtet hell wie von einem inneren Licht. Es ist ein heller Roséwein. Die Flasche steht neben dem Mann auf einem Tisch, aber vom Etikett ist nur ein kleiner Teil zu sehen.
Immer, wenn Cora vorbeikommt, hält er ihr auffordernd das Glas entgegen.
In ihrer Jugend liebte sie alle möglichen Männer: Winnetou, den Gotenkönig Teja, eine Zeitlang sogar Prinz Hamlet und natürlich viele, viele Schnulzensänger. Das ist Jahre her, aber ein Rest Schulmädchenschwärmerei steckt noch in ihr.
Er, der Mann mit dem Weinglas, hat einen braunen Pullover an mit hochgekrempelten Ärmeln und wahrscheinlich eine Jeans, aber das ist nicht richtig zu sehen, weil er hinter diesem Tisch steht. Er hat dunkle Haare und einen Dreitagebart. Auf dem Kopf trägt er einen Schlapphut, der ins Genick geschoben ist. Das sieht irgendwie französisch aus, meint Cora, und deshalb muss auch der Wein ein französischer sein und am besten auch der Mann. Die Hand, die das Weinglas hält, ist nicht die Hand eines Bücherwurms, aber auch nicht die eines Bauern. Eine ganz normale Hand; aber der Griff der Fingerspitzen um den Stiel des Weinglases ist achtsam, beinahe zärtlich. Sehr französisch.
Das redet Cora sich jedenfalls ein und belächelt sich selbst dabei. Sie lächelt jedes Mal, wenn sie in der Unterführung vor der roten Ampel halten muss und die Plakate an den Wänden betrachtet. Die junge Frau mit den Käselaiben und der holländischen Haube ist nicht weiter beachtenswert, auch nicht die Kinder mit den Luftballons. Nur der Mann mit dem Weinglas zieht immer wieder Coras Blick auf sich. Die Bilder in der Unterführung werden nicht ausgewechselt wie die üblichen Werbeplakate. Es sind Bilder, die Szenen aus der Stadt darstellen sollen; vermutlich im Auftrag der Stadtverwaltung angebracht. Der Franzose mit dem Glas Rosé hängt seit mindestens drei Monaten dort.
Cora nennt ihn ihren „Sommelier“. Das Wort hat sie in einem Reiseführer für Frankreich gelesen, und es gefällt ihr. Es klingt nicht nur nach Wein, sondern auch nach Schlaf; sommeil heißt Schlaf, das weiß sie noch; und es klingt auch nach Sommer: Es klingt nach Grillenzirpen und dem Rascheln von Bäumen im Abendwind; es klingt nach leisen Gesprächen und dem Klang zarter Gläser, während eine tiefe Stimme französische Worte in ihr Ohr raunt. Das hat etwas Einschläferndes. In ihrer Unterführung verpasst Cora manchmal das grüne Licht an der Ampel und wird von einem sehr deutschen Hupkonzert aus dem Halbschlummer gerissen.

Günther konnte nicht mehr richtig kucken ...

Irgendwas stimmte mit seinen Augen nicht. Er hob die Bierflasche und blinzelte auf das Etikett. Das konnte er gut lesen, auch das klein Gedruckte. »Die Gesundheitsministerin: Alkoholische Getränke gefährden das klimatische Gleichgewicht. Dieses Produkt ist von bester Qualität und nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft hergestellt. Sollten Sie trotzdem Nebenwirkungen verspüren, befragen Sie Ihren Arzt.«

Was war das für ein Quatsch? Politiker dachten sich so etwas nicht aus, die redeten doch immer den Wählern nach dem Mund. Irgendeine schwachsinnige Gesundheitslobby wahrscheinlich. Das Rauchen hatten sie ihm schon verleidet. Günther rauchte seit zwei Jahren nicht mehr. Seit dem Jubiläum seines Kegelvereins. In einem Regal des Wohnzimmerschranks stand ein Gruppenfoto der Kegelbrüder. Eine ganze Reihe Männer war darauf und dahinter hing ein Spruchband »20 Jahre Ruhige Kugel«. Die Schrift war klar und scharf. Die Gesichter der Männer sahen aus wie grauweiße Wolken.

Hinter ihm dozierte der Fernseher: »Die Mehrheit der Bevölkerung hat den Nutzen kontranslationaler Sequestrierung längst akzeptiert. Sie leben, mit Verlaub, hinter Proxima Centauri!«

Günther ging in die Küche zurück und kippte das Bier entschlossen in den Ausguss. Ihm war ein wenig übel.

Dorothea schreibt an ihrer Facharbeit über Delfinstimmen

Ihr Arbeitszimmer war kahl. Um jede Ablenkung zu verhindern, hatte sie ihren Schreibtisch nicht vor das große Doppelfenster, sondern vor die einförmig weiße Wand gerückt. Als einziger Schmuck hing in Augenhöhe über dem Tisch eine kleine blaue Kachel. Hin und wieder blickte sie auf und vertiefte sich in die Kachel, um die Augen zu entspannen. Wenn sie lange genug hinsah, gerieten die hellen Wirbel auf dem winzigen blauen Viereck in Bewegung und strahlten wie Wellenstrudel in leuchtenden Wasserfarben. Dann senkte Dorothea den Blick und schaute wieder auf ihre Hände auf den Computertasten. »Delfine haben keine Hände«, dachte sie. »Vielleicht ist das das Beste an ihnen. Sie sind intelligent und gesellig, aber sie haben keine Kriegsstrategien entwickelt und verschmutzen ihre Umwelt nicht. Weil sie keine Hände haben.«

Einen Augenblick verweilte sie tatenlos und genoss das Gefühl, ganz allein auf diesen Gedanken gekommen zu sein, der ihr erhaben und philosophisch vorkam. Dann riss sie sich zusammen und rieb ihre tränenden Augen. Tagelang hatte sie dicke Fachbücher gewälzt, dürre Diagramme und Kurvenblätter beglotzt, verglichen und getippt, aber noch nie hatte sie einen wild lebenden Delfin aus der Nähe gesehen.

Gespräch mit Delfinen

Dorothea fuhr mit dem Bus nach Hause. Ihr Computer, den sie meist den ganzen Tag eingeschaltet ließ, rauschte eintönig auf ihrem Schreibtisch, mit grünem Lichtchen Bereitschaft meldend. Der Bildschirm hatte sich ausgeknipst. Gewohnheitsmäßig setzte sich Dorothea, noch in Jacke und Schal, vor das Gerät und rief das Mail-Programm auf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die neuesten Nachrichten aus dem Datenhimmel hereintrudelten. Ihre neue Freundin, die Delfintrainerin in Florida, schickte ihr eine Mail mit dem üblichen Betreff »Gespräch mit Delfinen.« Als Dorothea die Nachricht öffnete, bestand sie nur aus vier kryptischen Zeilen. Es war ein Zitat aus einem Lied von Laurie Anderson (der Name stand darunter): »Swimming around and around in his tank / And one of the questions the whale kept asking him / was / Do all oceans have walls.«

Sekundenlang blieb Dorothea vor dem Bildschirm sitzen und starrte verständnislos auf die Buchstaben. In die Stille hinein piepte plötzlich schrill ihr Telefon. Dorothea machte einen nervösen Satz und fiel beinahe vom Stuhl. Es dauerte einen Augenblick, bis sie in dem Durcheinander auf ihrem Tisch das schnurlose Gerät gefunden hatte, das unaufhörlich weiterpiepte, als wolle es hämisch signalisieren: »Warm ... wärmer ... heiß ... wieder kälter.« Im Hörer meldete sich atemlos Christians Stimme. »Dorothea, lass uns gleich zusammen in die Musikakademie gehen. Kannst du herkommen?«
»Wohin denn?« Dorotheas Augen wanderten zu dem Bildschirm zurück, bis sie sich energisch zwang, die kleine blaue Kachel über ihrem Schreibtisch anzusehen.
»Ich habe gehört, die Professorin Bechstein spinnt«, rief Christian.
»Was gehört? Vom wem?«
»Von der Sekretärin. Hör zu, mein Handy zickt, ich kann nicht so lange reden. Komm in einer halben Stunde zur Musikakademie, wir treffen uns vor dem Hauptgebäude. Und bring auf alle Fälle eine von deinen CDs mit. Mit den Delfinstimmen. Vergiss es nicht, ja?«
»Aber warum denn?«
Es klickte im Hörer.

In einer halben Stunde. Dorothea stand ein wenig widerwillig auf.
Die vier Zeilen aus Laurie Andersons Gedicht klangen in ihr nach und lösten ein diffuses Unbehagen aus. Ihr Magen zog sich zusammen. Haben alle Meere Wände? Damit war alles gesagt, und trotzdem hoffte sie auf mehr, warf auf gut Glück ein Netz aus und ließ ihr Mailprogramm online, obwohl sie instinktiv wusste, es würde nichts mehr kommen. Ihr letzter Blick, ehe sie den Platz am Computer verließ, galt der kleinen Kachel.


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Laurie Anderson: John Lilly Lyrics

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