Wortgesang

Er hat "Ulysses" in vierundzwanzig Stunden gelesen, behauptet er. Wovon es handelt, hat er nicht mitbekommen. Er war mit Lesen beschäftigt. Sich in der kurzen Zeit noch mit dem Wortsinn auseinanderzusetzen, überstieg seine Fähigkeiten. Aber die. Worte. Jedes Wort. Gelesen. Jedes.

Zentauren, Komposita, singen am lautesten. Hochzeitsdatum: schwingt sich in die Lüfte, weit mehr als "Hochzeit" allein. Kindertage sind lang und fallend, noch länger und fallender ist die Wendung "Seit Kindertagen". Politikverdrossenheit ist etwas, was man auf Fingerspitzen trägt, um es schließlich in den Dreck zu werfen. Erzählung schwingt sich weit nach außen, lässt aber den Endpunkt ahnen. Nacherzählung ist hingegen eine langweilige Angelegenheit, quasi durchs Fenster beobachtet. Noch langweiliger ist das Wort Angelegenheit. Das macht sich breit und quer, ohne eine Spur von Tiefe, es liegt einfach nur im Weg.

Fremdwörter haben keine Farbe, behauptet Bettina und gibt als Beispiel das Wort "stringent" an. Ich finde schon, dass stringent eine Farbe hat. Es ist ein zitronengelber Federstrich, mit so eng geschraubter Feder, dass die Tinte spritzt. Operette, das sind zwanzig Tischtennisbälle in einem Beutel, die leicht gegeneinander rappeln. Oper ist ein einziger Medizinball. Synästhetik: klingt irgendwie unanständig, ebenso wie Ästhetik oder Ästhet. Ich dachte früher, ein Ästhet sei so eine Art Sittenstrolch.

Prinz: ein Punkt oder vielmehr ein winziger Kringel. Campari: eine gerade Linie, mit einem Planscher in der Mitte, als ob man in eine Pfütze tritt. Dimension: hat einen schönen Schwung nach oben ins Ungewisse. Das Wort Rührkeule, das ich kürzlich kennen gelernt habe (es war der Titel einer Kurzgeschichte), ist klanglich ein Widerspruch in sich; es klingt wie ein Stampfer, der auf Zehenspitzen daher kommt. Dirigent ist leicht und luftig; man muss ihm nicht gehorchen, aber man macht es gern. Dirigat klingt schon erheblich strenger, da lauert die Peitsche im Hintergrund. Taten, egal ob gute oder schlechte Taten, sind immer etwas in die Luft Geworfenes, das noch keine Erdung gefunden hat. Taten - ein Schlag ans Hoftor und auf das Echo warten. Verona ist weich und sanft, Piemont in die Landschaft gestochen, Venedig und Neapel schweifen aufs Meer hinaus. Stockholm war auf dem Meer und kam wieder zurück. Helsinki ist nicht zu trauen. Der schönste Städtename ist St. Petersburg: Das schwebt so kompakt in der Luft wie das Eiland Laputa. (Apropos: Eiland ist ein geniales Wort; es ist klein und schwimmend und trotzdem etwas Festes im Dunst.) Leningrad klingt demgegenüber viel sachlicher, aber dieses "-grad" impliziert ein in die Luft geworfenes Lasso. (Das gilt auch für Stalingrad, unseligen Angedenkens.) Prag ist eine Münze im Schnee, Wien ein Sahnetuff, Barcelona eine Perlenkette, Toledo ein stolzer Obsidian. Kartoffel ist eine Spirale, Apfel der Schöpfungsmorgen, Wirsing eine Milchglasscheibe in den Herbst.

Und wovon handelt das Buch? Hab ich nicht mitbekommen. Aber "Buch" hat Tiefe. Ein schmaler Alkoven mit einem Guckloch ins Dunkle, wie ein Fernglas, das man umgekehrt ans Auge hält.

Blubbern als Kunst!

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"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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