fischgrund

...

Ihr habt mir
das wichtigste
verschwiegen.

das bedrohliche rauschen einer springflut im frühling. nachts.
ein hauch algengrün auf einem balkongeländer, im morgennebel gesehen. ein verlassenes spinnennetz, von tauperlen bedeckt.
der schlag einer nachtigall am flussufer.
die von vielen händen blank gescheuerte haltekette am beginn der hängebrücke. der mann, der mir auf halber strecke entgegen kommt, unsicheren schritts auf schwankenden brettern, das gesicht verbrannt, die augen grell.
die rundgeschliffenen kiesel auf dem grund des flusses.
in der ferne ein zaun.

worte.

Hotel Schneegipfel

(hier gepostet für Neda. Danke fürs Ausgraben!)



Sie kamen bei hereinbrechender Dunkelheit an und suchten in dem fremden Ort nach ihrer Unterkunft.

»Hotel Schneegipfel heißt es«, erklärte Ute den beiden Kindern zum x-ten Mal. »Bitte helft mir beim Suchen. Ich weiß nicht, wo es liegt.«

»Hier ist aber alles voller Hotels, Mama«, bemerkte die achtjährige Ilka.

Der ganze Ort bestand aus Gasthöfen. Die meisten waren große weiße Gebäude im ländlichen Stil, mit holzverschalten Giebeln und breiten, geschnitzten Balkonen.
Vogelfutterhäuschen und Schneemänner schmückten die Vorgärten. Auf allen Dächern lag dicker Schnee. Ute fuhr langsam, und sie und die Kinder versuchten, im trüben Straßenlampenschein die Hausnamen zu entziffern, die entweder auf große Holzschilder oder auf den Putz gemalt waren. »Hotel Jachmann«, las Ilka langsam und stockend, »Haus Reserl, Zum Kahlwirt – nein, zum Karlwirt.« Ihre kleine Schwester Reni stieß sie in die Seite, und beide begannen haltlos zu kichern.

Haltet doch die Klappe! Ute widerstand dem Impuls, die Kinder anzuschnauzen. Das Lachen würde ihnen ohnehin bald vergehen.

»Jetzt ist Schluss. Achtung, ich fahre weiter. Achtung, mitlesen!«

An beiden Straßenseiten war der Schnee zu kniehohen Wällen zusammengeschoben. In manchen Fenstern funkelten noch Lichterbögen, obwohl es schon lange nach Dreikönig war, und an den Türen hingen Tannenkränze mit roten Schleifen.

»Ich will morgen Schlitten fahren!«, verkündete die kleine Reni, in einem kühnen Gedankensprung vom Weihnachtsschmuck zu ihrem Weihnachtsgeschenk. »Mama, können wir morgen Schlitten fahren?«

Ute antwortete nicht, sondern lehnte sich weit nach vorne und schaute an den Hausfassaden hinauf. Sie hatte das Ende der Straße erreicht, wendete und fuhr zurück, um einen Abzweig in die zweite Hauptstraße des Ortes zu nehmen.

Morgen muss ich mit euch Schlitten fahren. Doch wie sagt man zwei kleinen Kindern, dass ihre Familie vor der Auflösung steht? Papa ist nicht mitgekommen. Nicht, weil er arbeiten musste, sondern, weil er keine Lust hatte. Hört ihr? Er hatte keine Lust. Hatte Besseres vor. Versteht ihr das? Ist das bei euch angekommen?? »Schneegipfel, schaut bitte«, wiederholte sie.

»Hotel Kreischanfall«, sagte Ilka und wies auf ein Haus im Rohbau. Reni prustete los, und ihr Kichern steigerte sich zu hilflosem Gackern, als Ilka hinzufügte: »Bei uns liegen Sie richtig!«

Das war ein beliebter Scherz, den sie von ihrem Vater übernommen hatten. Ute trat heftig auf die Bremse; das Auto rutschte ein Stück weiter und prallte gegen einen Schneewall. Sie musste den Rückwärtsgang einlegen und ein paar Mal Gas geben.

»Mama, du sollst nicht so wild bremsen, wenn es glatt ist!«, belehrte Ilka.

Halt die Klappe. Halt doch endlich die Klappe. Sie bog in die Abzweigung. »Haus Geranie«, »Rosenhalde«, »Schönblick«. Die meisten Hotels hatten kleine Abstellplätze für die Autos der Gäste, und rundherum lag der Schnee in hüfthohen Haufen. Schneeschieber und Säcke mit Streusalz lehnten an den Hauswänden. Hier und da stand ein vergessener Schlitten am Straßenrand.

Die Straße führte wieder aus dem Ort hinaus. Am Ende stand ein Gebäude mit Klappläden, das mit einer Unmenge Eiszapfen geschmückt war. Zu Hunderten hingen filigrane Tropfsteine von den Fenstersimsen und klebten in dicken Trauben am Balkon. Es war eine Welt aus Weiß, mit feinem Schnee bestäubt wie mit Puderzucker.

Die kleine Reni hüpfte aufgeregt auf dem Rücksitz. »Mama, Mama! Das muss es sein! Das ist es ganz bestimmt! Ein Märchenschloss!«

»Ich sehe nirgends Licht.« Ute bremste und schaute an dem Haus hinauf. Aber es war das letzte Haus an der Straße. Wenn es nicht das richtige war, musste sie wenden und wieder in den Ort hinein fahren. Und von vorne beginnen mit der Suche. Sie lehnte die Stirn gegen das Lenkrad und seufzte.

»Was ist denn, Mama? Ist das nun unser Hotel, Mama? Mama!«

Ute riss die Tür auf und stieg aus.

»Wartet mal hier«, wies sie die Kinder an und schloss die Tür wieder, um den Wagen nicht auskühlen zu lassen.

Das weiß bepuderte Haus lag dunkel. Neben dem doppelflügeligen Eingangstor hing das übliche Namensschild. Es handelte sich also um ein Hotel oder einen Gasthof. Doch auch das Schild war mit einer Menge nadelscharfer Eiszapfen übersät und unleserlich.

Ute zögerte, den Gehsteig zu verlassen, aber endlich stieg sie doch in den knöchelhohen Schnee und watete an dem niedrigen Zaun entlang um das Haus herum. Auch an der Seite des Gebäudes war alles voller Eiszapfen; sie hingen reihenweise von den Fensterbänken und an der Dachtraufe wie ein erstarrter Wasserfall. »Wenn nur keiner runterfällt«, dachte sich Ute und schauderte zusammen, als sie sich die kalte, scharfe Spitze in ihrem Nacken vorstellte.

Dann sah sie die Rückseite. Das halbe Obergeschoss fehlte. Der Dachstuhl war zertrümmert, und schwarzes Gebälk ragte wirr in den Nachthimmel. Die Fassade des Untergeschosses war rußgeschwärzt.

Das Haus hatte gebrannt. Und die Eiszapfenpracht, dachte Ute, während sie die verkohlten Wände betrachtete, kam zweifellos vom Löschwasser der Feuerwehr.

»Mama!«, rief eine Kinderstimme. »Mama!«

Rasch machte Ute kehrt und lief an der Seite des Hauses zurück. Ilka war ausgestiegen und winkte ihr heftig zu. »Was ist jetzt, Mama? Wohnen wir in dem Märchenschloss, Mama? Das ist doch bestimmt unser Hotel, nicht wahr, Mama?«

Ute stapfte durch den hohen Schnee zur Straße hin. »Nein«, sagte sie, während sie den Schnee von ihren Stiefeln abklopfte und sich wieder auf den Fahrersitz setzte. »Nein, dort dürfen wir nicht wohnen. Es ist ein Haus für Feen. Nur für Feen und Elfen. Nicht für Menschen wie uns.«

Der kleine Bruder

Wenn ich die Haustür öffne oder das Garagentor, ist der Kater da. Er gehört nicht mir, sondern irgendwem in der Nachbarschaft.

Er ist klein; wahrscheinlich irgendwann im späten Frühjahr geboren. Im Sommer wirkte er immer sehr zart und zerbrechlich. Er drückte sich durch den Türspalt und gab krächzende Laute von sich, als müsse er das Maunzen erst noch lernen. Ich gab ihm alles mögliche zu fressen, weil er aussah, als hätte er überhaupt keine Substanz.

Später erfuhr ich, dass er es in der ganzen Nachbarschaft ringsum ebenso trieb. Im Herbst war ich zwei Wochen verreist. Als ich zurückkam, war er doppelt so groß geworden. Noch immer nicht das, was man einen ausgewachsenen Kater nennen könnte, aber kräftig und selbstbewusst. Wenn ich draußen Holz für den Kamin hole oder die Briefe aus dem Briefkasten, kommt er ganz selbstverständlich mit herein. Manchmal habe ich keine Lust auf Kater und schließe die Tür vor seiner Nase. Fünf Minuten später öffne ich sie wieder, weil es mir leid tut, ihn abgewiesen zu haben. Dann kommt er ganz selbstverständlich hereinstolziert. Er hat in aller Ruhe neben der Tür gewartet; er weiß, dass ich sie früher oder später für ihn aufmachen werde.

Er begibt sich in die Küche und bleibt vor dem Kühlschrank stehen.

Manchmal möchte ich ihm lieber nichts geben, weil ich weiß, dass er sich in der ganzen Nachbarschaft durchfrisst. Ich gehe nach nebenan und setze mich vor den Schreibtisch, um zu arbeiten. Er bleibt vor dem Kühlschrank sitzen. Ich vor dem Schreibtisch, er vor dem Kühlschrank. Er weiß, wer zuerst aufgibt. Immer ich.

Wenn er gefressen hat, möchte ich ihn auf den Schoß nehmen und mit ihm kuscheln. Er schnurrt so laut, dass sein ganzer Körper zittert. Ich halte ihn fest und kraule seine Ohren, streichle die vibrierende Kehle. Er reckt den Kopf nach hinten; das grüne Licht in seinen Augen wird schmäler und erlischt beinahe ganz; er streckt die Beine und fährt alle Krallen aus. Dann beginnt er ganz leise zu knurren. Das ist der erste Signal, dass seine Geduld ausgeht. Wenn ich ihn nicht sofort loslasse, schlägt er Krallen und Zähne in meine Hand. Es tut nicht wirklich weh; er meint es nicht ernst. Aber ich muss ihn loslassen. Dann will er auf der Stelle wieder hinaus.

Ich weiß, dass er anschließend bei einem meiner Nachbarn das gleiche Spiel spielt. Links, rechts, oben, unten, es ist überall das gleiche.

Manchmal frage ich mich, ob er mich überleben wird.

Wohnungssuche zweitens und letztens

… Man erzählte sich, dass die alte Eva einen zweiten Frühling erlebte und mit einem der Schnitter hinter den Strohmieten Zusammenkünfte hielt. Ihr Mann konnte sie nicht daran hindern, da er seit dem April mit Reißen in allen Gliedern darniederlag. Im Herbst starb er, und sofort liefen Gerüchte um, die alte Eva hätte ihn so vernachlässigt, dass er elend verhungert sei. Das Gerede kam der Gutsherrin zu Ohren, und sie machte sich auf den Weg zur alten Eva. Groß und herrisch stand sie in ihrem Kutschermantel in der Tür, und der weiße Haarschopf streifte beinahe den Türrahmen. „Was höre ich da, Eva? Du hast deinen Mann verhungern lassen?“
Die alte Eva brach sofort in Tränen aus. „Das erzählen sie, die Leute, ja! Aber es ist nicht wahr! Ich konnte nicht so nach ihm sehen, wie ich sollte, ich musste doch hinaus zur Arbeit. Aber ich habe immer für Essen gesorgt. Er hat alle Tage sein Brot und seinen Kornkaffee gekriegt!“
„Brot und Kaffee? Gute Frau, wie soll denn ein Kranker damit zu Kräften kommen, wie soll er überleben mit nichts als Brot und Kaffee?“
„Ich hatte keine Zeit zu kochen“, schluchzte die alte Eva, „ich musste doch auf den Acker und konnte keine Krankenkost zubereiten. Aber in meiner Jugend hatten wir auch oft wochenlang nur Brot und Kaffee! Keiner ist verhungert! Und wir haben schwer gearbeitet!“
Das machte die Gutsherrin nachdenklich. Ja, es stimmte, in früheren Zeiten hatten die Menschen mit nichts anderem als Brot und Kaffee schwere Arbeitstage überstanden und sich dabei wohl befunden. Wie kam es, dass diese einfache Nahrung heute nicht mehr hinreichte, um Leib und Seele zusammenzuhalten? Und sie fasste den Verdacht, dass es an der modernen Arbeitsweise liegen könne. Man machte fast nichts mehr mit eigenen Händen, es liefen Maschinen über die Äcker, niemand griff in die Krume. Vielleicht hatte das Korn seine Seele verloren und war nicht mehr so nahrhaft wie früher. Die Gutsherrin gab Anweisung, einen Teil ihrer Äcker wieder wie früher zu bewirtschaften, und stellte eigens dafür einige Arbeiter ab, solche vom alten Schlag, die sich nie ganz an die Sä- und Erntemaschinen gewöhnt hatten. Sie sollten die Saat wieder mit bloßen Händen ausstreuen und, wenn das Korn stand, wie früher mit Sense und Sichel mähen. Dann würde man sehen, welche Frucht nahrhafter war für Mensch und Vieh.


Ein Schatten fiel über das Buch – so erschien es mir. Als wäre jemand am Fenster vorbeigegangen. Was ausgeschlossen war in dieser Höhe.
Ich hatte ungefähr zwei Stunden gelesen. Der Roman war aus dem Schwedischen übersetzt und spielte irgendwann um die vorletzte Jahrhundertwende. Schnee und Dunkelheit im Winter, singende Erde im Sommer. Inzwischen war auch in der Wohnung die Sonne weiter gewandert; das Gitter vor dem Schlafzimmerfenster malte dunkle Linien an die weiße Wand. Draußen tönten Vogelschreie; das war sicher die ganze Zeit so gewesen, doch das Geräusch war am Rand meines Bewusstseins entlang gekrochen wie eine ferne Erinnerung. Jetzt klang es schriller denn je. Die alte Frau auf dem Bild musterte mich streng. „Und?“, fragte ich sie. „War das Experiment erfolgreich? Und haben Sie auch daran gedacht, sich bei Vollmond aufs Feld zu stellen und Kräutertee linksherum in die Furchen zu schütten?“ Sie antwortete nicht. Wahrscheinlich hielt sie es für unter ihrer Würde, einem überfütterten Menschen unserer Zeit Rechenschaft abzulegen. Wer das Brot beim Bäcker holte und nie im Leben Kornkaffee getrunken hatte, der hatte vermutlich kein Recht, solche Fragen zu stellen.

„Ich hätte nichts gegen einen Kaffee jetzt“, sagte ich, stand auf und ging ein wenig hin und her, weil meine Knie steif geworden waren. „Gucken Sie mich nicht so abfällig an. Ich bin keine Gutsherrin wie Sie. Ich kann nicht mal mein Haus behalten. Deshalb bin ich ja hier.“ Dann fiel mir eine andere Szene aus dem Buch ein – wie die Gutsherrin am Weihnachtsabend in den Stall gegangen war, um den Kühen und Ziegen für ihre Dienste zu danken. „Wäre vielleicht nett gewesen, in Ihrer Zeit zu leben“, sagte ich. „Kein Fernsehen, keine Banken, keine Scheidungen. Aber das kann sich niemand aussuchen. Wenn Sie mir also keinen Rat geben wollen, werde ich Sie aus dem Fenster werfen müssen. Ich weiß jedenfalls nicht, wie ich mich sonst bemerkbar machen könnte. Schließlich will ich hier nicht die Nacht verbringen.“ Wieder wanderte ein Schatten durch das Zimmer, so rasch wie ein Vogelflug. Ich drehte mich rasch zum Fenster um – vielleicht eine Taube? Als meine Augen zu dem Bild zurückkehrten, schien die Alte ihre Haltung verändert zu haben: Sie lehnte sich rückwärts an die Stuhllehne, und ihre Hände lagen ganz entspannt aufeinander. Sogar ihr Blick war weniger kritisch.

„Die Idee scheint Ihren Gefallen zu finden“, sagte ich. „Dann fange ich jetzt mit diesen beiden Rahmen hier an, die sind sowieso kaputt. Ich verspreche jedenfalls, dass Sie die Letzte sind, die an die Reihe kommt.“ Ich trug die Bilderrahmen nach nebenan und nahm auch den Stapel Polsterkissen mit, weil ich etwas zum Draufsteigen brauchte. Es gelang mir, mitsamt den Rahmen aufs Dach hinauszuklettern. Ich wagte mich nicht bis an den Rand vor, sondern blieb in kniender Stellung auf dem Fensterrahmen; aber ich schaffte es wahrhaftig, die beiden Rahmen über den Rand des Dachs hinauszuwerfen. Sie fielen in den Vorgarten und brachen auseinander; ich hörte den Aufprall.
Jedenfalls hatte ich keinen Menschen getroffen und keinen Schaden angerichtet. Aber es geschah auch sonst nichts. Der Mann mit dem Goldhelm schien eine wertlose Kopie zu sein. Ich beförderte ihn ebenfalls aus dem Fenster. Das eingestaubte Bild hinterher zu schicken, wagte ich nicht. Es war vermutlich ein Stilleben, jedenfalls erkannte ich Blumen, Früchte und einen Auerhahn oder Fasan, der auf dem Rücken lag. Vielleicht war es wertvoll.
Als letztes blieb mein Buch. Ich ging kurz mit mir zu Rate – und warf es hinaus. „He!“, schrie unten jemand. Ich beugte mich soweit wie möglich vor. „Bitte! Ich bin hier eingesperrt! Rufen Sie den Makler an!“ Unmöglich konnte das jemand gehört haben. Meine Stimme verlor sich im Wind und verflog über dem Hausdach. Ich sah Buchseiten davonflattern.
„Da haben wir’s“, sagte ich zu meiner Freundin und setzte mich wieder ihr gegenüber auf den Boden. „Nichts mehr zu lesen und nichts zu essen, nicht einmal Brot und Kornkaffee. Keine Unterhaltung mehr als wir beide.“ Sie lächelte breit. Ihre Arme hingen entspannt an ihren Seiten herunter. „Ein falsches Wort, und Sie fliegen auch hinaus“, drohte ich. Es war nicht ernst gemeint. Ich hätte niemals gewagt, sie durchs Fenster zu werfen. Gleichzeitig war ich sicher, dass dann jedenfalls jemand kommen würde. Die leeren Rahmen, der Mann mit dem Helm, das Buch – alles schien sinnlos davongeflattert zu sein. Aber wenn die Alte in den Vorgarten krachte, das bliebe bestimmt nicht unbemerkt.
Ich sparte mir die Gutsherrin als letzte verzweifelte Maßnahme auf, setzte mich wieder ihr gegenüber auf den Boden und wartete. Sie lächelte die ganze Zeit. Ein paarmal noch flog der Schatten am Fenster vorbei, aber ich blieb stur sitzen und schaute auf das Bild, bis mir fast die Augen zufielen.

Es kann nicht sehr lange gedauert haben, vielleicht eine halbe Stunde. Dann hörte ich die Bodentür klicken und schreckte hoch. Meine Füße waren eingeschlafen. Bis ich mich aufgerappelt hatte, stand der Makler schon in der Tür zum Schlafzimmer und blinzelte mich an.
„O Gott, habe ich Sie eingesperrt? Das tut mir sehr leid … ich bin angerufen worden, jemand sei hier in der Wohnung …“ Unsicher trat er von einem Fuß auf den anderen. Er hatte jetzt Jeans an, und sein Haar war struppig. An einer Schläfe klebte ein Streifen Mehl.
„Ich habe Sie wohl beim Backen gestört“, sagte ich.
„Ja, Kirschkuchen …“ Er lachte verlegen. „Wie ich sehe, haben Sie Gesellschaft …“ Er nickte zu dem Bild hin. „Das ist nur Trödel, sollte längst zum Sperrmüll. Wollen Sie die Wohnung haben?“
„O ja“, sagte ich, ohne zu überlegen. „Ja, ich nehme sie. Ich muss mir wohl ein paar neue Möbel kaufen, die ich diese Treppe hinauftragen kann, aber die Wohnung gefällt mir.“ Vielleicht tat es ja auch einfach eine Matratze auf dem Fußboden. Ein Klapptisch, Klappstühle … Im Geist begann ich die Wohnung einzurichten. Die Alte auf dem Bild hatte wieder die Hände ineinandergelegt und ihre strenge Miene angenommen.

Der Makler wurde geschäftsmäßig und fing an, mir den Mietvertrag zu erklären. Ich durfte nicht untervermieten und musste zweimal jährlich dem Schornsteinfeger die Tür öffnen, weil der einzige Zugang zum Dach durch die Wohnung führte. Hunde waren unerwünscht, aber eine Katze erlaubt. Während er sprach, wischte er sich das Mehl aus dem Gesicht und brachte seine Haare in Fasson, bis er fast wieder so edel aussah wie am Vormittag. Die Verwandlung war erstaunlich. Und, setzte er mit höflichem Lachen hinzu – vermutlich hielt er mich für hoffnungslos schrullig –, das Porträt durfte ich gern behalten, wenn ich wollte.
„Und Kaffee möchte ich“, sagte ich. „Trinken Sie einen Kaffee mit mir?“, ohne zu wissen, ob ich den Makler meinte oder die alte Frau. Er nahm an, immer noch lachend. Wahrscheinlich zweifelte er an meinem Verstand, aber das war ein guter Anfang.

Wohnungssuche

Es war kurz nach halb zehn, und ich sollte den Makler um zehn Uhr vor dem Haus treffen. Ich war mit dem Zug angekommen, vom Bahnhof aus eine halbe Stunde mit dem Bus weitergefahren und hastete die Fußgängerzone hinauf, den Stadtplan in der Hand. Bis hierher war der Tag ein Reinfall. Um acht Uhr die erste Wohnungsbesichtigung, vorgeblich ein Souterrain, in Wirklichkeit ein niedriger Keller mit offen liegenden Wasserleitungen, die beständig rauschten. Um halb neun ein möbliertes Zimmer mit Familienanschluss; die Hausfrau öffnete mir die Tür, während der Ehemann im Unterhemd, Zigarettenstummel im Mundwinkel, an der Spüle stand und etwas schrubbte. Für die dritte Besichtigung musste ich noch einmal quer durch die Stadt. Ich war verschwitzt und mutlos.
In der Fußgängerzone fing der Vormittagsbetrieb an: Sonnenschirme wurden aufgespannt und Sitzkissen auf Klappstühle verteilt. Meine eigenen Gartenmöbel zu Hause musste ich auch noch verkaufen, fiel mir ein. Verdammter Umzug. Am liebsten hätte ich mich irgendwo hingesetzt und einen Kaffee bestellt. Statt dessen sollte ich dem Makler gegenübertreten, sicher ein geschniegeltes Ekelpaket, und einen möglichst guten Eindruck machen.
An der Straßenkreuzung, wo ich laut Stadtplan links abbiegen musste, war ein Bücherstand aufgebaut. Die Bücher waren genau von der Art, wie ich sie am liebsten mag: Leinenrücken, denen der Schutzumschlag abhanden gekommen war, mit schwer leserlicher Goldprägung; das Papier am Schnitt vergilbt. Ich ging langsamer und schaute in die Seitenstraße links. Lauf weiter, sagte ich mir, die Wohnung ist wichtiger, du kannst die Bücher nachher noch ansehen; und dann: was solls, du bist so gut wie am Ziel, die paar Minuten hast du noch, und mit der Wohnung wird es sowieso nichts. Ich setzte meine Tasche ab und begann zu blättern. Romane von vergessenen Autoren, manche sogar in Fraktur gedruckt und mit verblichenen Widmungen auf dem Vorsatzblatt. Ich nahm ein Buch nach dem anderen in die Hand, schaute nach den Preisen (zwei bis fünf Euro) und las hier und da eine Zeile. Nach wenigen Minuten wurden meine Knie weich und meine Kehle eng: Die Zeit rückte unerbittlich vor; ich musste zum Haus und den Makler treffen; ein interessantes Buch hatte ich nicht gefunden, aber so viele Bücher in der Hand gehabt und wieder hingelegt, dass ich es nicht über mich brachte, einfach wegzugehen.
Es war unsinnig, jetzt ein Buch zu kaufen, wo ich demnächst umziehen musste und ohnehin viel zuviel Kram besaß, der mir im Weg sein würde. Zwei Minuten vor zehn, der Makler wartete sicher schon, und ich sollte seriös und zuverlässig erscheinen. Der Besitzer des Bücherstands sah mich grimmig an. Hastig legte ich ihm einen Zehner hin, nahm meine Tasche und lief mit dem Buch, das ich gerade in der Hand hatte, davon, ohne auf Wechselgeld zu warten.
Das würde mir kein Glück bringen.

Ich musste nicht lange nach dem richtigen Haus suchen: Es standen bereits vier Leute davor, und als ich etwas außer Atem herankam, näherten sich noch zwei andere aus der Gegenrichtung. Misstrauisch beäugten wir einander, Konkurrenten um eine begehrte Beute: bezahlbarer Wohnraum im Zentrum einer Großstadt. Ich schaffte es gerade noch, das Buch in meine Tasche zu packen und meine Frisur etwas zurechtzustreichen, da tauchte hinter meinem Rücken der Makler auf und schüttelte jedem die Hand. Er war sehr jung, sah aus wie ein Pennäler in Nadelstreifen, hatte schwarze, perfekt geschnittene Haare und das Auftreten eines Menschen, der selbstbewusst wirken möchte, sich in seinen Erfolgen aber noch nicht ganz zu Hause fühlt.
Das Haus wurde aufgeschlossen, und wir kletterten fünf Treppen hinauf. Die Wohnung lag im Dachgeschoss. Auf dem obersten Flur führte eine schmale Bodentür zu einer sehr engen Spindeltreppe, über die man direkt in das leuchtend weiß gestrichene Wohnzimmer gelangte. In den USA hätte man es vielleicht ein Penthouse genannt, hier war es einfach ein ausgebauter Speicher. Ich wusste sofort, dass auch diese Wohnung für mich nicht in Frage kam; meine schweren Möbel konnte ich nicht über diese Spindeltreppe hinaufschaffen. Es war völlig sinnlos gewesen, herzukommen. Ein bohrender Missmut über die lange Zugfahrt und den vergeudeten Tag machte sich in mir breit, und während die anderen Interessenten sich im Wohnzimmer verteilten und die beiden Dachfenster bestaunten, bemerkte ich laut, ohne jemand Bestimmten anzusprechen: »Hier wird wohl alles vermietet, was vier Wände hat?« Der Makler warf mir einen verstörten Blick zu, so dass ich mich sofort schämte; es war ja nicht seine Schuld. Um meiner Bemerkung etwas die Schärfe zu nehmen, begann ich Interesse zu heucheln und betrachtete meinerseits die Dachfenster, die groß genug waren, dass man über eine kurze Leiter aufs Dach hätte hinaussteigen können. Die Gruppe wanderte inzwischen weiter durch das Bad ins Schlafzimmer und kam gleich darauf wieder zurück.
Der Makler führte die Küchenzeile vor, die edle weiße Kunststoff-Fronten hatte. Ich ging weiter in den Schlafraum. An zwei Seiten waren niedrige Einbauschränke; man hatte dazu einfach Schranktüren in die Dachschrägen gesetzt. Ich öffnete eine davon. Der Dachwinkel dahinter zog sich in dunkle Tiefen hinab, es schien Gerümpel darin zu liegen. Ich konnte nicht anders, ich musste hineinkriechen und untersuchen, was es dort gab. So bin ich schon immer gewesen. Ich durchsuche Flohmärkte und die Dachböden meiner Bekannten und rette altes Zeug, ehe es zum Müll wandert; ich betreibe so etwas wie einen Gnadenhof für Krempel. Wieder wurde meine Kehle eng: Verdammter Umzug.
Ich fand einen Stapel zerfledderte Polsterkissen; die Art Kissen, die man auf Liegestühle legt. Dahinter steckte ein ganzer Stoß gerahmter Bilder – er sah vielversprechend aus, aber das Licht war zu schlecht. Ich kroch rückwärts, zerrte den Stapel mit, und plötzlich wurde mir bewusst, dass es in der Wohnung ganz still geworden war. Ich krabbelte aus dem Schrank, richtete mich auf und klopfte die staubigen Knie ab. Unter mir, irgendwo im Treppenhaus, knallte eine Tür. Die anderen waren gegangen, mitsamt dem Makler. Ich war allein in der Wohnung. Ich rannte ins Wohnzimmer und die Spindeltreppe hinunter. Die Bodentür zum Treppenabsatz war abgeschlossen.
Wieder hinauf. Die Dachfenster hatte der Makler natürlich zugemacht. Ich klappte eines auf und versuchte einen Klimmzug am Fensterrahmen, um aufs Dach hinauszugelangen. Wenn ich schnell war, konnte ich mich noch zur Straße hinunter bemerkbar machen, ehe der Makler außer Hörweite war. Meine Zuversicht war ungebrochen; es würde alles klappen, gleich würde er wieder hinaufkommen, mich hinauslassen, wir würden lachen über das Missgeschick, und er hatte ganz bestimmt ein nettes Lachen über dem schicken Anzug und unter dem schön geschnittenen schwarzen Haar. Vielleicht hatte er Zeit für einen Kaffee; ich würde ihn einladen, ihm das neu gekaufte Buch zeigen und ihm erzählen, was für ein Schwachkopf ich war. Die Wohnung kam zwar nicht für mich in Frage, aber ein Kaffee wäre nett. Ich schaffte es, mich soweit aus dem Fenster zu stemmen, dass ich bäuchlings auf dem Dach zu liegen kam. Es war unverschämt hoch, geradezu unglaublich hoch. Die Straße war ein winziger heller Streifen in der Tiefe einer Schlucht. Ich piepste »hallo«, aber nur der Form halber. Der Makler und der Schwarm von Wohnungsinteressenten waren längst über alle Berge. Die Straßenschlucht lag verlassen.
Mein Handy – ich rutschte ins Wohnzimmer zurück und durchsuchte meine Tasche. Das Handy steckte in einem Seitenfach. Das Display war schwarz. Akku entladen. Das war nichts Neues. Da ich das Handy nur selten benutze, achte ich meistens nicht darauf, es rechtzeitig aufzuladen. Im Wohnzimmer gab es einen Telefonanschluss, aber natürlich kein Telefon.
Ich kletterte wieder die Spindeltreppe hinunter – diese verdammte Treppe, man bekam einen Drehwurm dabei – und wummerte mit den Fäusten gegen die Tür. »Hallo! Hallo!« Nichts rührte sich. Das Obergeschoss stand leer, oder es war niemand zu Hause.

Ein paar Minuten lang suchte ich nach einem Ausweg. Das Badezimmer hatte ein winziges Milchglasfenster in einer Gaube. Das Fenster im Schlafzimmer war größer, aber vergittert. Ich saß fest in dieser Wohnung, die etwas von einem Mastkorb hatte. Leere weiße Wände strahlten mich an. Selbst bei geschlossenen Fenstern hörte ich die Schreie der Mauersegler. Wenn ich ganz still stand, meinte ich die ganze Behausung im Wind schwanken zu fühlen.
Mein Blick fiel auf die offene Schranktür. Da lagen die Bilder.
Ich zog den Stapel aus dem Schrank. Das oberste Bild war so eingestaubt, dass ich es mit spitzen Fingern weglegte. Darunter lag eine sehr dunkle Reproduktion von Rembrandts Mann mit dem Goldhelm. Zwei leere Rahmen folgten, beide etwas aus dem Leim gegangen. Ganz unten im Stapel lag ein großes Porträt. Es reichte mir fast bis zur Hüfte. Ich lehnte es an die Wand, um es mit Abstand betrachten zu können. Die dargestellte alte Frau füllte den Rahmen fast ganz aus. Sie saß sehr aufrecht auf einem einfachen Stuhl und blickte mich streng an. Das Bild hatte einen breiten Goldrahmen und nahm sich vor der weißen Wand gut aus.
Ich überlegte ein paar Minuten, ob die Alte und ich Freundinnen werden könnten; ich setzte mich sogar ihr gegenüber auf den Boden und fragte: »Was meinen Sie? Was soll ich tun?« Aber ihre Miene wurde nur noch abweisender. Wahrscheinlich war sie der Meinung, ich hätte mich gar nicht erst in diese Lage bringen dürfen. »Es ist nun mal passiert!«, rechtfertigte ich mich. »Es tut mir ja leid, aber das hilft doch jetzt nichts mehr! Was soll ich machen?« Sie hielt die Hände ineinandergelegt. Die Hände waren recht groß, gerötet und verkrümmt, als seien sie ans Zugreifen gewöhnt. Jetzt umfassten sie einander und hielten still.

(Teil II folgt)

Aufnahme

Ich saß in der ersten Reihe, vor mir nur noch der Prüfer. Schreiben Sie einen Aufsatz über falsche Freunde, wies er uns an und nannte Beispiele: David (meinte er den biblischen? Ich traute mich nicht zu fragen), einen berühmten Tennisspieler, Michael Jackson.
Es ist nicht entscheidend. Aber Sie können Ihre Situation verbessern.
Ich wollte anfangen, hatte aber kein Schreibpapier. In meiner Mappe nur Haftzettel, winzige Abrisse wie für Einkaufslisten, herausgerissene Buchseiten, Lochkarten mit merkwürdigen Schlitzen wie Messerschnitte.
Können Sie mir etwas Papier geben?, fragte ich. Er schaute mit einem Auge von seiner Zeitung auf: Warum sollte ich das tun?
Ich suchte weiter in meiner Mappe, probierte ein paar trockene Schluchzer, in der Hoffnung, ihn zu erweichen. Hinter mir standen einige andere Kandidaten auf, kamen nach vorne und gaben ihre Aufsätze ab. Ich nahm ein Blatt Karopapier, mit Rechnungen und Diagrammen bekritzelt. Oben war noch etwas Platz. Ich schrieb drei Zeilen, dann war die Zeit um.

Molière

Wir schauen uns eine DVD an, den Film über Molière von Mnouchkine, erster Teil.

Die Karnevalsfeier, der brennende Heuwagen. Die Nacht im Schuldturm. Die abbröckelnde weiße Schminke im Gesicht. Die Szene, als Zigeuner die Karrenpferde schlachten und das rohe Fleisch fressen.

- Damals hast du angefangen mit dem Schreiben, weiß ich noch.

Was? Ich schrecke auf. Das war 1978. Damals habe ich nicht angefangen. Ich habe geschrieben, seit ich schreiben kann. Ich schrieb schon lange, ehe ich das erste Mal von Molière gehört habe.

- Und jetzt habe ich wieder aufgehört mit Schreiben, sage ich humorlos. Auf dem Bildschirm beginnt der Mistral zu pfeifen, eine Freilichtbühne fliegt im Wind davon, mitsamt den darauf stehenden Schauspielern, die lachen und schreien und sich an die Kulissen klammern.

Der Film ist zu Ende. Den zweiten Teil schauen wir uns morgen an, sage ich. Öffne die Schublade des DVD-Spielers, nehme die Scheibe heraus, vorsichtig auf der Zeigefingerspitze balanciert, und frage mich, woher ich so genau weiß, dass uns nicht bis morgen alles andere auch weggeflogen sein wird.

Tintagel

Sie hat dem Hund das Gatter geöffnet, ohne darüber nachzudenken. Das Gatter unterbricht den Drahtzaun, der sich links und rechts durch die Klippen zieht. Es ist ein einfaches, etwas schief hängendes Tor aus Holzlatten. Man muss das ganze Tor anheben, um den Riegel in seinem Gehäuse zurückzuschieben. Der Hund schwänzelt hindurch und blickt sie auffordernd an. Es ist ein schwarzer Hund, etwa kniehoch, mit lockigem Fell und abgeknickten Ohren. Er rennt weiter auf dem Klippenpfad, ohne sich umzusehen. Sie schließt das Gatter wieder, mit Achselzucken und etwas angegriffenem Lachen. Jedes Gatter, belehrt der Reiseführer, ist so zu belassen, wie man es vorgefunden hat.

Etwa hundert Meter vor ihr bewegt sich eine Familie mit zwei Kindern vorwärts. Deutsche wie sie – schon in der Burgruine, Stunden vorher, ist sie ihnen begegnet. Und weit hinter ihr schleicht ein altes Ehepaar dahin mit Rucksäcken und Teleskopstöcken. Es sind Briten – auch das weiß sie, denn sie hat die beiden eine halbe Stunde zuvor überholt. Der schwarze Hund mit den Knickohren scheint zu keiner der beiden Gruppen zu gehören. Leichtfüßig rennt er ins Gebüsch, ohne Furcht, sich an den Dornen zu reißen. Er bleibt stehen, hebt ein Bein, macht flüchtig irgendwas (es kann nicht mehr sein als ein Spritzer) und rennt schon wieder los auf seinen unerforschlichen Pfaden. Hin und her, vor und zurück. Sie wandert weiter auf dem Klippenpfad dahin; mit jeder Kehre tut sich eine neue Aussicht auf, ein grelles Feuerwerk von frühlingshaftem Sonnenlicht auf dem Wasser, kohlschwarze Schlagschatten in den Senken, funkelnde Grasbüschel, die sich mal so und mal so herum wenden in den Wirbeln der Luft, am Himmel taumelnde Möwen. Wind braust um ihre Ohren. Der Hund legt die vierfache Strecke zurück, weil er immer vorwärts und rückwärts läuft. Er bewegt sich sternförmig in alle Richtungen, kehrt kurz zu ihr zurück und rennt wieder davon zu unbekanntem Ziel. Er muss doch jemandem gehören, sagt sie sich und hält Ausschau, ob der Hund irgendeine Menschengruppe oder einen einsamen Wanderer im Auge behält, sich vergewissert, wo seine Meister sich aufhalten; es gibt ja genug Wanderer hier. Aber der Hund kümmert sich um nichts. Auch um sie nicht wirklich. Sie ist lediglich der Mittelpunkt einer sehr weit gefassten Spirale, die der Hund beschreibt; er bewegt sich zwar mit ihr fort, spricht aber nicht mir ihr.

Sie öffnet und schließt ein weiteres Zaungatter, lässt den Hund dabei mit durch und beschließt bei dieser Gelegenheit, so zu tun, als sei es ihr Hund. Das ist so leicht. Ja, und es ist nett. In Gedanken nennt sie ihn „Artus“, spricht ihn aber vorsichtshalber nicht mit Namen an. Jedes Mal, wenn er sie im Vorbeirennen flüchtig streift mit seinem unermüdlichen Hin und Her, streicht sie mit der Hand über das krause Fell und sagt in Gedanken „Artus“. Auf der Höhe der Uferklippen scheucht er eine Herde Ponys auf, die erschreckt davongeloppieren. „Artus“, rutscht es ihr erstmals laut heraus, und lauter: „Artus, lass das!“, ein sinnloser Befehl; er gehorcht nicht. „Take your dog, please!“, ruft ein Wanderer hinter ihr. Sie ruft zurück: „He isn’t mine!“
Wer soll das glauben, nachdem sie ihn mit Namen angeredet hat?

Auf dem Rückweg überlegt sie, wie sie den Hund loswerden kann. Der Hund ist ganz selbstverständlich mit ihr umgekehrt. Er begleitet sie mit Abstand, kreiselt weit um sie herum wie ein Leibwächter. Wo gehört er hin? Er trägt ein Halsband, sieht nicht ungepflegt aus; irgendwer muss ihn doch wollen. Irgendwer. Sie öffnet und schließt die beiden Gatter und lässt beide Male den Hund durch; das zweite Gatter macht sie hinter ihm zu und wendet sich rückwärts über eine Brachwiese Richtung Hotel. Ha, ausgetrickst, denkt sie. Minuten später rennt der Hund an ihr vorbei. Er muss unter dem Gatter durchgekrochen sein und macht triumphierende Sprünge über die Wiese. Was soll sie tun? Die Hotelrezeption, denkt sie, oder der Tierarzt am Ort; sie wird nachfragen müssen, ihr Problem schildern. In Gedanken legt sie sich Sätze zurecht und verflucht ihr schlechtes Englisch. Who knows this dog? He isn’t mine. His name is Artus. No. I only imagined that. Mit einem Mal hat sie ihn aus den Augen verloren; er hat sich verflüchtigt in der Weite der Brachwiesen. Sie geht langsamer, aber er kommt nicht zurück. Das Tintagel Hotel, ein Klotz mit flatternden Fähnchen, begrüßt sie von weitem. Hunde sind dort verboten. Sie zockelt mit müden Füßen über die Auffahrt und schaut dabei ringsumher. Ein letztes Mal mit dem Türgriff in der Hand.

Millen(n)ium

Beim Lesen eines alten Wallander-Krimis; einer von der Sorte, die in einem Zeitraum von fünfzehn Jahren etwa fünf Serienmörder in einer schwedischen Kleinstadt etablieren. (Ich umfahre diese Kleinstadt weiträumig, man weiß ja nie.)
:
Wie lange das her ist, diese Dramen alter Zeit. Die totale Sonnenfinsternis des alten Jahrtausends. Wir sind damals spontan nach Frankreich gefahren. Haben zur besten Zeit in den Himmel geschaut, mit Brillen auf. Ich erinnere mich an eine glasig-verblassende Helligkeit, plötzlich aufkommenden Wind; die Sonne tanzte am Himmel. Eine Minute in Gottes Goldfischglas. Wind und plötzliche Lautlosigkeit, als wäre jeder Laut im Luftstrom hinweg gerissen.
Die Katastrophe zur Jahrtausendwende ist dann auch nicht gekommen. Später spontane, ziemlich sinnlose Kapitalanlagen, weil der Euro im Sterben sei. Ist auch schon wieder vier Jahre her. Den Euro gibt es nach wie vor. Von zwanzig Sorgen, die wir uns im voraus machen, werden neunzehn nie zur bitteren Wahrheit, schreibt der Herr Ratgeber. Wir können uns eigentlich ganz beruhigt zurücklehnen.
Lasst Herkules tun, was er kann; die Katze wird miauen und der Hund wird seinen Lauf haben.
:
Herr Ratgeber verschweigt (oder gibt nicht zu), dass unsere schlimmste Bedrückung nicht aus der Sorge um die Zukunft entspringt, sondern aus den Orten der Vergangenheit, wo wir die Weichen falsch gestellt haben. Den Orten des Perfekts, wo wir hätten gewollt haben sollen. Eine glasig-verblassende Vergangenheit im Goldfischglas; ein Flossenschlag zuviel oder zuwenig; es wäre besser, wir hätten nichts getan. Uns auf unsere Hände gesetzt, den Kopf eingezogen; die Ohren verstopft, als wir den Ruf zu hören meinten.
:
(sowieso nur Einbildung.
Wir sollten uns an den Wind erinnern. Er sagt uns zu jeder Zeit, dass wir nicht gemeint sind.
(Wir sprechen Antworten, wenn die Fragen bereits lange verklungen sind.)
)

Es geht bergab!

Ich sammle Wasserfälle. Sie müssen weder besonders breit noch hoch sein, aber jedenfalls mindestens doppelt so hoch und breit wie ich. Am liebsten mag ich die Sorte, die man auf Korsika „Piscia di Ghjaddu“, Hahnenpiss, nennt. Es gibt stahlharte Leute, die sich unter einen solchen Wasserfall stellen und sich fotografieren lassen. Habe ich früher auch gemacht. Heute schaue ich lieber in die Höhe und suche mir einen einzelnen Tropfen in der Wasserflut aus. Wenn er Glück hat (oder Pech), sprüht er weit über die Absturzkante hinaus und trudelt in einem atemberaubenden Regenbogen in den Gumpen hinab, um sich dort, wahrscheinlich außer Atem und verblödet vor Stress und Seligkeit, mit seinen Tropfenkumpanen zu vereinigen. Ich stelle mir vor, wie alle durcheinanderschnattern und jeder Tropfen unbedingt erzählen will, was er Tolles erlebt hat.

Aber es gibt auch die anderen, die gleich von Anfang an auf Seitenwege ausweichen. Sich ein behutsam niedergehendes Rinnsal am Rand suchen, durch Moos rieseln, Blätter benässen, vielleicht sogar ganz stehen bleiben, um als Vogeltränke oder Übungsplatz für Wasserläufer zu dienen. Ich schaue mir das gern an und denke nach, ob sich jeder Tropfen seinen Weg wählen darf, oder ob eine barmherzige Hand von oben vorher jedem Tropfen das zuteilt, was er verkraften kann. Vielleicht gibt es auch so etwas wie einen Tropfenmythos. „Hier links, wenn du Mumm hast“, mögen sie einander zuraunen, und „du bist zu sensibel für die Mitte, geh lieber rechtsrum, da ist es besser für dich“. Sicher bin ich jedenfalls, dass jeder Tropfen den Weg nur einmal gehen darf. Nur eine Gelegenheit. Wer ganz feige ist, bleibt in einer Pfütze oberhalb des Wasserfalls stehen und fragt sich, ob er eigentlich etwas verpasst hat oder nicht, bis ihn die Sonne aufgeleckt hat; oder bis ein Wanderer seinen Zigarettenstummel hineinwirft, so dass das Tümpelchen mit einer kleinen Wolke verzischt: Aus. Nie gestürzt.



Powerscourt, Wicklow (Irland)

Blubbern als Kunst!

brille

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"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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