Neue Patienten ... Anamnese
Seit gestern habe ich zwei neue Buchpatienten. Beide sind - in geschlossenem Zustand - gerade mal so groß wie meine Handfläche.
"Neues christliches Vergißmeinnicht" heißt der erste, "herausgegeben von der Tractat-Gesellschaft der Bischöfl. Methodisten-Kirche ... Druck von Philipp Reclam jun. in Leipzig". Leider ohne Jahreszahl.
Das winzige Büchlein enthält für jeden Tag des Jahres ein Gebet - Bibelverse aus dem Psalmen, aus der Offenbarung, aus Apostelbriefen. Fast jeder bedruckten Seite steht eine Blankoseite gegenüber, wohl für persönliche Notizen gedacht. Über mehrere Jahre hinweg hat eine Unbekannte auf diesen Blankoseiten Tagebuch geführt. In Sütterlin. Mir tränen jetzt noch die Augen.
Der zehnte Januar zum Beispiel gibt vor:
Wer aber beharret bis an das Ende, der wird selig. (Matth. 24,13)
Wachet: denn ihr wisset nicht, welche Stunde euer Herr kommen wird. (Matth. 24,42) - dazwischen stehen noch zwei Strophen eines Kirchenliedes.
Darunter steht für den 14. Januar:
Was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich thun, auf daß der Vater geehret werde in dem Sohne. (Joh. 14,13)
Auf der gegenüberstehenden Blankoseite habe ich mühsam entziffert:
"Am 13ten Januar 1871 mußte unser lieber Johannes wieder von uns, seinem Regiment nach welches bei Orleans wohl steht. Ach wie ist mir mein Herz so schwer, wie wird es ihm ergehen?"
Darunter, mit erheblich veränderter, zerfahrener Schrift:
"Der 14te Januar 1877 war einer der traurigsten Tage meines Lebens und der darauf folgende Vormittag war noch trauriger."
Und was war so traurig? Das verschweigt mir das Buch. Der darauf folgende Eintrag datiert vom 15. Januar 1874 - also drei Jahre früher - und lautet: "Den 15ten Januar 1874 wurde unser lieber Sohn Conrad zum Fähnrich befördert."
"Den 19. Februar 1882 legte mir der liebe Gott das Schwerste zu tragen auf, denn er nahm mir meinen lieben guten Mann, plötzlich wurde durch einen Gehirnschlag uns genommen, mein Gott du hast mich schwer geschlagen! Am 22. Februar 1882 wurde die liebe Seele zu Grabe getragen, mein Schmerz ist unermeßlich."
Noch eine Kostprobe: "Am 3. März 1884 verheirathete sich mein lieber Sohn Conrad mit Vallerie Schulte in Königsberg. Lieber Gott, nimm die lieben Kinder in deinen gnädigen Schutz und Schirm immerdar."
Bisher habe ich vier Söhne gezählt: Johannes, Paul, Otto und Conrad. Mehrmals tauchen Einträge auf wie: "Den ... (Datum) mußte mein lieber Sohn in den Krieg ziehen." Dazwischen hat die Schreiberin ein Rezept für vorzügliche Sandtorte und ein zuverlässiges Mittel gegen Tintenflecken auf Möbeln festgehalten.
"Am 18. Dezember 1882. Aber je größer der Besitz war, desto schwerer wiegt der Verlust, und man braucht Zeit, sich in den Rath seines Gottes zu finden und zu fügen, sich unter seinen Willen zu beugen. Gehorsam muß man lernen. Wir trösten uns, dass des lieben Vaters Segen mit uns allen sein werde. Der Herr ist mein Hirte!"
Mein Litwerkstatt-Schreibkollege Lothar Reichardt, der Rhönmaler, hat mir das Buch anvertraut. Es fällt auseinander; der vordere Deckel ist schon ab. Die Schrift frisst sich durch das Papier, besonders die handschriftlichen Eintragungen. Das meiste ist mit schwarzer Tinte, manches auch mit lila Tinte oder Bleistift geschrieben. Ich werde versuchen, noch mehr zu entziffern.
Aus 120 Jahren Entfernung grüße ich ganz herzlich die unbekannte Schreiberin.
"Neues christliches Vergißmeinnicht" heißt der erste, "herausgegeben von der Tractat-Gesellschaft der Bischöfl. Methodisten-Kirche ... Druck von Philipp Reclam jun. in Leipzig". Leider ohne Jahreszahl.
Das winzige Büchlein enthält für jeden Tag des Jahres ein Gebet - Bibelverse aus dem Psalmen, aus der Offenbarung, aus Apostelbriefen. Fast jeder bedruckten Seite steht eine Blankoseite gegenüber, wohl für persönliche Notizen gedacht. Über mehrere Jahre hinweg hat eine Unbekannte auf diesen Blankoseiten Tagebuch geführt. In Sütterlin. Mir tränen jetzt noch die Augen.
Der zehnte Januar zum Beispiel gibt vor:
Wer aber beharret bis an das Ende, der wird selig. (Matth. 24,13)
Wachet: denn ihr wisset nicht, welche Stunde euer Herr kommen wird. (Matth. 24,42) - dazwischen stehen noch zwei Strophen eines Kirchenliedes.
Darunter steht für den 14. Januar:
Was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich thun, auf daß der Vater geehret werde in dem Sohne. (Joh. 14,13)
Auf der gegenüberstehenden Blankoseite habe ich mühsam entziffert:
"Am 13ten Januar 1871 mußte unser lieber Johannes wieder von uns, seinem Regiment nach welches bei Orleans wohl steht. Ach wie ist mir mein Herz so schwer, wie wird es ihm ergehen?"
Darunter, mit erheblich veränderter, zerfahrener Schrift:
"Der 14te Januar 1877 war einer der traurigsten Tage meines Lebens und der darauf folgende Vormittag war noch trauriger."
Und was war so traurig? Das verschweigt mir das Buch. Der darauf folgende Eintrag datiert vom 15. Januar 1874 - also drei Jahre früher - und lautet: "Den 15ten Januar 1874 wurde unser lieber Sohn Conrad zum Fähnrich befördert."
"Den 19. Februar 1882 legte mir der liebe Gott das Schwerste zu tragen auf, denn er nahm mir meinen lieben guten Mann, plötzlich wurde durch einen Gehirnschlag uns genommen, mein Gott du hast mich schwer geschlagen! Am 22. Februar 1882 wurde die liebe Seele zu Grabe getragen, mein Schmerz ist unermeßlich."
Noch eine Kostprobe: "Am 3. März 1884 verheirathete sich mein lieber Sohn Conrad mit Vallerie Schulte in Königsberg. Lieber Gott, nimm die lieben Kinder in deinen gnädigen Schutz und Schirm immerdar."
Bisher habe ich vier Söhne gezählt: Johannes, Paul, Otto und Conrad. Mehrmals tauchen Einträge auf wie: "Den ... (Datum) mußte mein lieber Sohn in den Krieg ziehen." Dazwischen hat die Schreiberin ein Rezept für vorzügliche Sandtorte und ein zuverlässiges Mittel gegen Tintenflecken auf Möbeln festgehalten.
"Am 18. Dezember 1882. Aber je größer der Besitz war, desto schwerer wiegt der Verlust, und man braucht Zeit, sich in den Rath seines Gottes zu finden und zu fügen, sich unter seinen Willen zu beugen. Gehorsam muß man lernen. Wir trösten uns, dass des lieben Vaters Segen mit uns allen sein werde. Der Herr ist mein Hirte!"
Mein Litwerkstatt-Schreibkollege Lothar Reichardt, der Rhönmaler, hat mir das Buch anvertraut. Es fällt auseinander; der vordere Deckel ist schon ab. Die Schrift frisst sich durch das Papier, besonders die handschriftlichen Eintragungen. Das meiste ist mit schwarzer Tinte, manches auch mit lila Tinte oder Bleistift geschrieben. Ich werde versuchen, noch mehr zu entziffern.
Aus 120 Jahren Entfernung grüße ich ganz herzlich die unbekannte Schreiberin.
schmollfisch - 10. Feb, 23:48