Alles relativ
In Sabine Thieslers Roman "Der Kindersammler" steht folgende Passage:
Mareike registrierte in der Laube alles ganz genau, als fotografiere sie in ihrem Hirn die Einzelheiten. (...) Der billige Kaufhausperser über der abgenutzten grün-bräunlichen Auslegware und das kitschige Bild mit der Tiroler Berg- und Seenlandschaft in einem primitiven beigefarbenen Rahmen, das Benjamin stundenlang angestarrt haben musste.
Wer mit beflügelter Phantasie liest, weil er just vor dem "Kindersammler" vielleicht Poe gelesen hat, der wird hier stolpern und sich fragen, wer wen angestarrt hat: Benjamin die Landschaft oder die Landschaft den Benjamin. Gut, ein nüchtern auf Krimilektüre gebürsteter Leser fragt sich das vielleicht nicht. Aber vollends gespenstisch wird es bei diesem Satz:
Die Bedienung brachte das Schinkenbrötchen, und Mareike sah fassungslos zu, mit welcher Schnelligkeit es Karsten verschlang.
Als ich meiner Tochter diesen Satz vorlas, gerann ihre Miene zu einer Maske des Schreckens. Vermutlich ektoplasmisierte sich vor ihrem geistigen Auge das Horrorbild eines Schinkenbrötchens, das ein zahnloses Maul aufreißt, um Karsten den Kopf abzubeißen. Nach kurzem Überlegen meinte sie: "Aber erlaubt ist das im Deutschen, oder?" Oder? Ein solches Satzgefüge gehobener Stilebene gemahnt mich etwa an den "Kampf um Rom", wo wir lesen können: "Rasch zur Seite warf sie den Purpurmantel." Man könnte ohne Verlust an Wucht und Pathos umstellen: "Rasch zur Seite den Purpurmantel sie warf" oder auch: "Ein Purpurmantel wallte von ihren weißen Schultern. Rasch zur Seite ihn sie warf." Das ist nicht gerade schön, aber wenigstens klar und logisch, weil kein Zweifel daran besteht, dass jene Sie den Mantel wegwirft und nicht umgekehrt. Karsten hingegen sollte besser, wenn schon die Bedienung, der Verzehr des Brötchens und Mareikes Staunen obdessen in einen einzigen Satz gepfercht werden müssen, dies besser auf schlichte Weise tun: "... und Mareike sah fassungslos zu, mit welcher Schnelligkeit Karsten es verschlang." So, das ist klar und eindeutig.
Besteht Karsten auf der gehobenen Stilebene, sollte er wenigstens was anderes bestellen. Denn äße er statt eines Schinkenbrötchens einen Butterkuchen, bekäme ihm das besser: "Die Bedienung brachte den Butterkuchen, und Mareike sah fassungslos zu, mit welcher Schnelligkeit ihn Karsten verschlang." Na bitte, geht doch.
Esst mehr Butterkuchen!
Mareike registrierte in der Laube alles ganz genau, als fotografiere sie in ihrem Hirn die Einzelheiten. (...) Der billige Kaufhausperser über der abgenutzten grün-bräunlichen Auslegware und das kitschige Bild mit der Tiroler Berg- und Seenlandschaft in einem primitiven beigefarbenen Rahmen, das Benjamin stundenlang angestarrt haben musste.
Wer mit beflügelter Phantasie liest, weil er just vor dem "Kindersammler" vielleicht Poe gelesen hat, der wird hier stolpern und sich fragen, wer wen angestarrt hat: Benjamin die Landschaft oder die Landschaft den Benjamin. Gut, ein nüchtern auf Krimilektüre gebürsteter Leser fragt sich das vielleicht nicht. Aber vollends gespenstisch wird es bei diesem Satz:
Die Bedienung brachte das Schinkenbrötchen, und Mareike sah fassungslos zu, mit welcher Schnelligkeit es Karsten verschlang.
Als ich meiner Tochter diesen Satz vorlas, gerann ihre Miene zu einer Maske des Schreckens. Vermutlich ektoplasmisierte sich vor ihrem geistigen Auge das Horrorbild eines Schinkenbrötchens, das ein zahnloses Maul aufreißt, um Karsten den Kopf abzubeißen. Nach kurzem Überlegen meinte sie: "Aber erlaubt ist das im Deutschen, oder?" Oder? Ein solches Satzgefüge gehobener Stilebene gemahnt mich etwa an den "Kampf um Rom", wo wir lesen können: "Rasch zur Seite warf sie den Purpurmantel." Man könnte ohne Verlust an Wucht und Pathos umstellen: "Rasch zur Seite den Purpurmantel sie warf" oder auch: "Ein Purpurmantel wallte von ihren weißen Schultern. Rasch zur Seite ihn sie warf." Das ist nicht gerade schön, aber wenigstens klar und logisch, weil kein Zweifel daran besteht, dass jene Sie den Mantel wegwirft und nicht umgekehrt. Karsten hingegen sollte besser, wenn schon die Bedienung, der Verzehr des Brötchens und Mareikes Staunen obdessen in einen einzigen Satz gepfercht werden müssen, dies besser auf schlichte Weise tun: "... und Mareike sah fassungslos zu, mit welcher Schnelligkeit Karsten es verschlang." So, das ist klar und eindeutig.
Besteht Karsten auf der gehobenen Stilebene, sollte er wenigstens was anderes bestellen. Denn äße er statt eines Schinkenbrötchens einen Butterkuchen, bekäme ihm das besser: "Die Bedienung brachte den Butterkuchen, und Mareike sah fassungslos zu, mit welcher Schnelligkeit ihn Karsten verschlang." Na bitte, geht doch.
Esst mehr Butterkuchen!
schmollfisch - 19. Sep, 21:42