Ach, Tolstoj ...
Klitschko-Bruder I: "Hier, für dich." *reicht ihm ein Buch*
Klitschko-Bruder II, ächzend: "Tol-stoj. Schwää-re Kost."
Zwei Männer sitzen im Zug beisammen, kommen ins Gespräch, und der eine erzählt dem anderen sein ganzes Leben. Es ist eine lange Erzählung, die die ganze Nacht hindurch dauert, denn es ist nicht nur der äußere Verlauf des Lebens, der erzählt wird, sondern der Erzähler kotzt sich regelrecht aus, er referiert seine Fehler, er klagt sich selbst an, ein grundfalsches Leben geführt zu haben. Und woraus besteht sein Fehler? Er schlief mit seiner Frau.
Die "sogenannte Liebe" ist ein Betrug, das Verhältnis der Männer zu ihren Frauen ist "ein Abgrund von Irrtümern und Täuschungen" und das, was der Erzähler den "Honigmond" nennt, ist "peinlich, beschämend, häßlich, jämmerlich und vor allem langweilig, unerträglich langweilig". Wenn die Menschheit endlich darauf verzichten würde und in der Folge ausstürbe, wäre das das beste, was passieren kann. "Wozu ist sie denn notwendig, diese Fortdauer des Menschengeschlechts?" Und so geht es weiter und weiter, ein Kapitel ums andere. Der dramatische Gipfel, der Mord an der Ehefrau, wird mehr nebenbei vermerkt ... die "Message" ist das Wichtigste.
Wie soll man so etwas bloß lesen? Und das gilt als Weltliteratur. Vom gleichen Autor immerhin, der "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina" geschrieben hat. Über mehr als hundert engbedruckte Seiten hinweg ergießt sich in Tolstojs Erzählung "Die Kreutzersonate" eine wahre Sturzwelle an sexualfeindlichen, ja lebensfeindlichem Geschwalle und Gewetter. Angeblich hat Tolstoj einige Jahre später der Erzählung einen Epilog hinzugefügt, in der er die Gedanken seines Eisenbahnreisenden ausdrücklich als seine eigenen deklarierte. Selbst in der Ehe sollten Mann und Frau wie Bruder und Schwester leben und die Ehe nicht durch sexuelles Erleben verunreinigen.
Und wie sah Tolstojs eigenes Eheleben aus? Er heiratete mit 34 Jahren ein achtzehnjähriges Mädchen, das eigentlich halb und halb mit einem anderen verlobt war, aber der Versuchung erlag, einen aufsteigenden Stern am Schriftstellerhimmel zu ehelichen. Wahrscheinlich war ihr gestiegenes Prestige das einzige, was sie von der Ehe hatte. Schon während des "Honigmondes" tyrannisierte ihr Mann sie mit übermäßiger Libido, wie ihre Tagebuchaufzeichnungen verraten: "Er liebt es, mich zu quälen und weinen zu sehen" schrieb sie schon kurz nach der Eheschließung in ihr Tagebuch. Die Ehe nahm tatsächlich einen Verlauf, der erstaunliche Parallelen zu der "Kreutzersonate" aufweist, wenn man Frau Tolstojs Tagebuch Glauben schenkt. "Ich weiß, dass ich ihm im Wege bin, wenn er mich nicht zu seiner Befriedigung braucht. ... Wenn nur die Leute, die die Kreutzersonate mit solcher Hochachtung lesen, einen Augenblick das erotische Leben sehen würden, das er führt - und das allein ihn glücklich und heiter macht - sie würden diesen kleinen Gott von dem Sockel herunterholen, auf den sie ihn gestellt haben ... es ist nicht schön, ein Tier zu sein, aber es ist auch nicht gut, ein Prediger von Prinzipien zu sein, die man selbst nicht imstande ist durchzuführen" schreibt sie 1891, nach fast dreißig Jahren Ehe, mit großer Klarsicht. Ihre freundschaftliche Beziehung zu einem Musiker betrachtete Tolstoj mit heftigem Argwohn - ganz wie der Erzähler der "Kreutzersonate".
Wollte Tolstoj denn überhaupt etwas erzählen - oder ging es ihm nur darum, mit den Mitteln der Schriftstellerei seine Moralvorstellungen zu ventilieren? So oder so - schwää-re Kost. Man schwankt zwischen Gähnen und ungläubiger Belustigung. Aber was ist das? Da stolpern wir im neunzehnten Kapitel über folgenden Satz, mit dem der Eisenbahnreisende seinen Nebenbuhler, den Musiker, beschreibt: "Der Körperbau schwächlich, wenn auch keine ausgesprochene Mißgestalt; auffallend das stark entwickelte Hinterteil, wie bei einem Weib oder einem Hottentotten. Die sollen ja auch sehr musikalisch sein." Autsch! Bei aller Vorsicht, heutige Maßstäbe an einen Text des neunzehnten Jahrhunderts anzulegen, ist es schwer vorstellbar, dass Tolstoj mit diesen Sätzen etwas anderes präsentieren wollte als hilflose, pöbelnde Gehässigkeit. Sein Eisenbahnreisender, der die Institution der Ehe, das ganze Verhältnis der Geschlechter zu klar zu durchschauen behauptet, hat in bezug auf sich selbst nicht den rechten Durchblick.
Und der Autor, wie weit hat er sich selbst durchschaut? Wenn ich den Kritiker "misanthropos" auf der Internetseite www.sandammeer.at (von dort stammen übrigens die Tagebuchzitate) richtig verstehe, dann hat der Moralist Tolstoj sich in dieser Erzählung "vor seinem eigenen unbestechlichen Blick der Lächerlichkeit preisgegeben." Vor seinem eigenen Blick, wohlgemerkt. Es ist immerhin die gleiche Zeit, in der Knut Hamsuns "Hunger" erschien - auch diesen tragischen Roman sollte man besser mit einem guten Schuss Ironie lesen, wird im Vorwort der Neuausgabe 1997 empfohlen.
Papier ist geduldig. Wasser predigen, Wein trinken und gehässige Erzählungen darüber schreiben - der Autor, der sich in einem moralischen Doppelsalto gleich zweimal selbst aufhebt, hat meine widerwillige Sympathie. Auch wenn man sich durch die hundert Seiten verquaster Moral nur mit schwää-rer Mühe kämpft. Vielleicht schreibe ich auch mal so etwas, das befreit bestimmt.
Klitschko-Bruder II, ächzend: "Tol-stoj. Schwää-re Kost."
Zwei Männer sitzen im Zug beisammen, kommen ins Gespräch, und der eine erzählt dem anderen sein ganzes Leben. Es ist eine lange Erzählung, die die ganze Nacht hindurch dauert, denn es ist nicht nur der äußere Verlauf des Lebens, der erzählt wird, sondern der Erzähler kotzt sich regelrecht aus, er referiert seine Fehler, er klagt sich selbst an, ein grundfalsches Leben geführt zu haben. Und woraus besteht sein Fehler? Er schlief mit seiner Frau.
Die "sogenannte Liebe" ist ein Betrug, das Verhältnis der Männer zu ihren Frauen ist "ein Abgrund von Irrtümern und Täuschungen" und das, was der Erzähler den "Honigmond" nennt, ist "peinlich, beschämend, häßlich, jämmerlich und vor allem langweilig, unerträglich langweilig". Wenn die Menschheit endlich darauf verzichten würde und in der Folge ausstürbe, wäre das das beste, was passieren kann. "Wozu ist sie denn notwendig, diese Fortdauer des Menschengeschlechts?" Und so geht es weiter und weiter, ein Kapitel ums andere. Der dramatische Gipfel, der Mord an der Ehefrau, wird mehr nebenbei vermerkt ... die "Message" ist das Wichtigste.
Wie soll man so etwas bloß lesen? Und das gilt als Weltliteratur. Vom gleichen Autor immerhin, der "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina" geschrieben hat. Über mehr als hundert engbedruckte Seiten hinweg ergießt sich in Tolstojs Erzählung "Die Kreutzersonate" eine wahre Sturzwelle an sexualfeindlichen, ja lebensfeindlichem Geschwalle und Gewetter. Angeblich hat Tolstoj einige Jahre später der Erzählung einen Epilog hinzugefügt, in der er die Gedanken seines Eisenbahnreisenden ausdrücklich als seine eigenen deklarierte. Selbst in der Ehe sollten Mann und Frau wie Bruder und Schwester leben und die Ehe nicht durch sexuelles Erleben verunreinigen.
Und wie sah Tolstojs eigenes Eheleben aus? Er heiratete mit 34 Jahren ein achtzehnjähriges Mädchen, das eigentlich halb und halb mit einem anderen verlobt war, aber der Versuchung erlag, einen aufsteigenden Stern am Schriftstellerhimmel zu ehelichen. Wahrscheinlich war ihr gestiegenes Prestige das einzige, was sie von der Ehe hatte. Schon während des "Honigmondes" tyrannisierte ihr Mann sie mit übermäßiger Libido, wie ihre Tagebuchaufzeichnungen verraten: "Er liebt es, mich zu quälen und weinen zu sehen" schrieb sie schon kurz nach der Eheschließung in ihr Tagebuch. Die Ehe nahm tatsächlich einen Verlauf, der erstaunliche Parallelen zu der "Kreutzersonate" aufweist, wenn man Frau Tolstojs Tagebuch Glauben schenkt. "Ich weiß, dass ich ihm im Wege bin, wenn er mich nicht zu seiner Befriedigung braucht. ... Wenn nur die Leute, die die Kreutzersonate mit solcher Hochachtung lesen, einen Augenblick das erotische Leben sehen würden, das er führt - und das allein ihn glücklich und heiter macht - sie würden diesen kleinen Gott von dem Sockel herunterholen, auf den sie ihn gestellt haben ... es ist nicht schön, ein Tier zu sein, aber es ist auch nicht gut, ein Prediger von Prinzipien zu sein, die man selbst nicht imstande ist durchzuführen" schreibt sie 1891, nach fast dreißig Jahren Ehe, mit großer Klarsicht. Ihre freundschaftliche Beziehung zu einem Musiker betrachtete Tolstoj mit heftigem Argwohn - ganz wie der Erzähler der "Kreutzersonate".
Wollte Tolstoj denn überhaupt etwas erzählen - oder ging es ihm nur darum, mit den Mitteln der Schriftstellerei seine Moralvorstellungen zu ventilieren? So oder so - schwää-re Kost. Man schwankt zwischen Gähnen und ungläubiger Belustigung. Aber was ist das? Da stolpern wir im neunzehnten Kapitel über folgenden Satz, mit dem der Eisenbahnreisende seinen Nebenbuhler, den Musiker, beschreibt: "Der Körperbau schwächlich, wenn auch keine ausgesprochene Mißgestalt; auffallend das stark entwickelte Hinterteil, wie bei einem Weib oder einem Hottentotten. Die sollen ja auch sehr musikalisch sein." Autsch! Bei aller Vorsicht, heutige Maßstäbe an einen Text des neunzehnten Jahrhunderts anzulegen, ist es schwer vorstellbar, dass Tolstoj mit diesen Sätzen etwas anderes präsentieren wollte als hilflose, pöbelnde Gehässigkeit. Sein Eisenbahnreisender, der die Institution der Ehe, das ganze Verhältnis der Geschlechter zu klar zu durchschauen behauptet, hat in bezug auf sich selbst nicht den rechten Durchblick.
Und der Autor, wie weit hat er sich selbst durchschaut? Wenn ich den Kritiker "misanthropos" auf der Internetseite www.sandammeer.at (von dort stammen übrigens die Tagebuchzitate) richtig verstehe, dann hat der Moralist Tolstoj sich in dieser Erzählung "vor seinem eigenen unbestechlichen Blick der Lächerlichkeit preisgegeben." Vor seinem eigenen Blick, wohlgemerkt. Es ist immerhin die gleiche Zeit, in der Knut Hamsuns "Hunger" erschien - auch diesen tragischen Roman sollte man besser mit einem guten Schuss Ironie lesen, wird im Vorwort der Neuausgabe 1997 empfohlen.
Papier ist geduldig. Wasser predigen, Wein trinken und gehässige Erzählungen darüber schreiben - der Autor, der sich in einem moralischen Doppelsalto gleich zweimal selbst aufhebt, hat meine widerwillige Sympathie. Auch wenn man sich durch die hundert Seiten verquaster Moral nur mit schwää-rer Mühe kämpft. Vielleicht schreibe ich auch mal so etwas, das befreit bestimmt.
schmollfisch - 26. Okt, 00:18