Flaschen

Nach der Verlagskonferenz und Gegenlesen eines Dreißig-Seiten-Artikels hat sich der junge Künstler an den Schreibtisch gesetzt, um die nächste Unterrichtsstunde im Kreativen Schreiben vorzubereiten. Der junge Künstler ist nicht im Hauptberuf Künstler, eigentlich noch nicht einmal im Nebenberuf; er ist Lehrer an einer Waldorfschule, Verleger und Lektor in einem Kleinverlag, der hauptsächlich Regionalia und Mundartlyrik druckt, und an zwei Abenden monatlich ist der junge Künstler auch noch Leiter eines Volkshochschulkurses zum Kreativen Schreiben. Heute abend beginnt ein neues Semester mit (wahrscheinlich) einigen neuen Autoren, und der junge Künstler lutscht am Ende des Kugelschreibers (abgeknabbert, abgestanden-metallisch schmeckend) und denkt nach, wie er diese Leute, die ihre Schnellhefter voller Gedichte vor sich hertragen wie den heiligen Gral, am besten auf die von ihm bevorzugte Linie bringt: das Thema anfassen; sinnlich, vielleicht lustvoll erfahren; darüber schreiben, diskutieren.

Ihm fällt nichts ein. Der Metallgeschmack des Kugelschreiberendes breitet sich in seiner Mundhöhle aus wie eine Krankheit; Bitternis pflanzt sich fort bis in den hinteren Rachenraum. Um auf einen anderen Geschmack zu kommen, geht der junge Künstler an den Kühlschrank, prüft den Inhalt (dreieinhalb Flaschen Diät-Cola, eine Flasche Mutivitaminsaft, schon abgelaufen, eine beinahe leere Tüte Milch, eine noch zugekorkte Flasche Sangiovese) und schließt die Tür wieder. Der Anblick der vielen Plastikflaschen bringt ihn auf ein Thema, das jeden betrifft und das niemanden kalt lässt: die leeren PET-Flaschen, die der Laden nicht zurücknimmt. Klar und deutlich sieht der junge Künstler den Automaten vor sich, in die man die Flaschen hineinzustecken hat, und das Display: »Gehört nicht zum Sortiment«. Er nimmt die Flasche, die der Automat ihm wieder entgegenschiebt, dreht sie herum und drückt sie ungeachtet des Hinweises »Flasche mit dem Boden zuerst einstellen« diesmal nicht ärschlings, sondern Hals voran in das Loch; der Automat drückt sie mit dem Hinweis »Gehört nicht zum Sortiment« beharrlich wieder zurück. Vermutlich ist die Flasche zu zerbeult, als dass sie der Automat wiedererkennt. Der junge Künstler steckt sich die Flaschenöffnung zwischen die Lippen und bläst mit aller Kraft die Dellen aus der Flasche, als gälte es, einen Ballon aufzupumpen. Wenn die Flasche sich wie ein Ballon aufbläht, denkt sich der junge Künstler und öffnet erneut die Kühlschranktür, wird sie nicht mehr in die Eingaberöhre des Automaten passen. Er wird nach Personal klingeln müssen. Der junge Künstler nimmt sich die Flasche Sangiovese, den soll man eigentlich nicht so kalt trinken, aber weinwissenschaftswidrig hat der junge Künstler den Wein eiskalt am liebsten. Auf sein Klingeln wird ein Lehrling kommen, mit blondierten, in der Kopfmitte zu einem Hahnenkamm zusammengegelten Haaren. Er wird sich die aufgeblasene PET-Flasche von allen Seiten betrachten, dann ein Blöckchen aus seiner Kitteltasche ziehen, desgleichen einen Kugelschreiber (ein Anflug des widerlichen Metallgeschmacks meldet sich auf der Zunge des Künstlers) und den Betrag von 15 Cent auf dem Blöckchen notieren, um den Zettel dann abzureißen und dem jungen Künstler wie einen Ablassbrief auszuhändigen.

Der junge Künstler nimmt einen Korkzieher aus der Schublade neben dem Kühlschrank und dreht ihn in den Korken der Flasche Sangiovese, während er an all die Volkshochschüler, die Kreativen Schreiber, die Besucher seiner Kurse denkt, die gerade jetzt in einem Supermarkt PET-Flaschen in den Rückgabeautomaten einfüttern. Meistens sind es Frauen zwischen 40 und 65, die seine Kurse besuchen. Alle diese Frauen, die in ihrer Freizeit Gedichte über den Klimawandel schreiben, über Arbeitslosigkeit, die Abholzung des Regenwalds, Babyklappen, ausgesetzte Haustiere und Globalisierung, alle diese Frauen stehen täglich in Supermärkten vor Rückgabeautomaten und stecken PET-Flaschen in die Röhre, die sogleich wieder zurückkommen mit dem Hinweis »Gehört nicht zum Sortiment«. Damit hat er sein Thema gefunden, das ist ein Thema, das wirklich jeden bewegt und keinen kalt lässt, denkt sich der junge Künstler und merkt nicht, dass der Korkenzieher wegrutscht und die Spitze sich in die Haut seines Handrückens bohrt; sogar das tropfende Blut sieht nicht viel anders aus als Sangiovese, und erst als er die Tropfen mit der Zunge auffängt, merkt er den Unterschied am Geschmack: abgestanden-metallisch, Bitternis bis in den hinteren Rachenraum.

Blubbern als Kunst!

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"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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