Geworfen VI
Streich das Rohr grün
Sie soll schon wieder Dame spielen mit dem alten Herrn, obwohl sie weder will noch kann. Ein »Kann ich nicht« lässt er nicht gelten. »Das lernen Sie schnell, kommen Sie schon, das kann jeder lernen.«
Sie verliert ein ums andere Mal. Einmal lässt er sie gewinnen, dann stellt er die Steine neu auf und verkündet: »So, jetzt spielen wir aber richtig.« Dann gewinnt er wieder. Manchmal macht sie einen Zug, der ihm nicht gefällt. Er nimmt ihren Stein und markiert: »Schauen Sie, das hätten Sie so machen müssen, dann hätte ich nämlich schlagen müssen« – er nimmt einen ihrer Steine weg, wirft ihn neben das Spielfeld – »und dann hätten Sie …« Und er legt zwei seiner eigenen Steine an den Rand. »Das hätten Sie machen müssen.« Die Steine bleiben so stehen, wie er sie gesetzt hat; das Spiel geht so weiter, wie er es für sie gestellt hat. Sie verliert trotzdem.
»Ich kann einfach keinen Stein opfern, um den Gegner herauszufordern«, verteidigt sie sich, » meine Steine sind für mich …« – sie sucht nach dem passenden Vergleich – »wie Schäfchen, ich werde nicht freiwillig eines meiner Schäfchen opfern, lieber verliere ich.«
Für Sekunden, während er murmelnd seine Strategie plant, sieht sie statt ihrer letzten drei weißen Steine winzige Schäfchen, kleine weiße Lämmer, die »mäh« schreien. Vergebens.
Nach der fünften Partie steht er auf, um sich mit seinen Malschülern zu unterhalten. Sie nutzt die Gelegenheit, ihr Strickzeug hervorzuholen, strickt eifrig und schaut dabei in ihr aufgeschlagenes Buch. Schon ist er zurück und baut die Steine neu auf.
»Darf ich die Reihe zu Ende stricken?«, fragt sie.
»Wir können schon anfangen«, erwidert er, »wenn Sie beim Stricken lesen können, dann können Sie auch spielen.«
Und schon verliert sie wieder. Sie findet keine Strategie. Wenn sie sich allzu blöd stellt, wird er sauer werden und sie anschnauzen. Wenn sie versucht, gut zu spielen, muss sie sich einen Schlachtplan überlegen. Während sie überlegt, trommelt er mit den Fingern: »Ja nu.« Zu gut darf sie ohnehin nicht werden, sonst denkt er am Ende noch, es macht ihr Spaß.
»Ihnen fehlt bloß die Routine«, bemerkt er und stellt die Steine neu auf, »wenn Sie erst mal Übung haben, dann macht es auch Spaß!«
Das tut es nicht. Aber nicht deshalb, weil sie keine Übung hat. Sondern umgekehrt: Sie hat keine Übung, weil sie überhaupt nicht gerne spielt.
»Sie werden sehen«, bemerkt er und stellt die Steine neu auf, »es macht Spaß, gegen einen Meister zu spielen, und ich bilde mir ein, ein Meister zu sein!«
Warum spielt er dann gegen sie?
Wenn er sich über das Spielbrett beugt, alt, krumm und weißhaarig, sieht er aus wie ihr Vater. Ganz klein saß sie ihm gegenüber, baumelte mit den Beinen, die Zöpfe hingen über die aufgestützten Arme. Während ihr Vater einen Stein zog, schob er einen anderen mit dem Ellbogen ein Feld weiter.
»Du mogelst ja!«, rief sie empört.
Ihr Vater schob den Stein wieder zurück und sagt: »Einmal mogeln ist erlaubt!«
Der alte Mann sieht aus wie ihr Vater, kurz bevor er das letzte Mal zur Chemo musste und nicht zurückkam.
Sie zieht einen Stein. Der Alte schnalzt unwillig, murmelt: »Und was soll ich armer Mann jetzt machen?« und schiebt einen Stein vor, den sie schlagen muss, worauf er im nächsten Zug bis ans Spielfeldende hüpft und eine Dame gewonnen hat.
Warum kümmert er sich nicht endlich um seine Schüler? Helmut hat sein Bild total blöd aufgeteilt, das sieht sogar ein Laie wie sie. Die Hausfront ist viel zu groß, das Fenster seitlich angeschnitten, der Busch unter dem Fenster kann sich nicht entscheiden, ob er in der Sonne oder im Schatten wächst, das Regenrohr ist platt wie ein Brett. Warum geht er nicht dorthin und kümmert sich, statt sie mit Damespielen zu plagen?
Er stellt die Steine neu auf und ruft:
»He, Helmut! Streich das Rohr grün!«
Sie soll schon wieder Dame spielen mit dem alten Herrn, obwohl sie weder will noch kann. Ein »Kann ich nicht« lässt er nicht gelten. »Das lernen Sie schnell, kommen Sie schon, das kann jeder lernen.«
Sie verliert ein ums andere Mal. Einmal lässt er sie gewinnen, dann stellt er die Steine neu auf und verkündet: »So, jetzt spielen wir aber richtig.« Dann gewinnt er wieder. Manchmal macht sie einen Zug, der ihm nicht gefällt. Er nimmt ihren Stein und markiert: »Schauen Sie, das hätten Sie so machen müssen, dann hätte ich nämlich schlagen müssen« – er nimmt einen ihrer Steine weg, wirft ihn neben das Spielfeld – »und dann hätten Sie …« Und er legt zwei seiner eigenen Steine an den Rand. »Das hätten Sie machen müssen.« Die Steine bleiben so stehen, wie er sie gesetzt hat; das Spiel geht so weiter, wie er es für sie gestellt hat. Sie verliert trotzdem.
»Ich kann einfach keinen Stein opfern, um den Gegner herauszufordern«, verteidigt sie sich, » meine Steine sind für mich …« – sie sucht nach dem passenden Vergleich – »wie Schäfchen, ich werde nicht freiwillig eines meiner Schäfchen opfern, lieber verliere ich.«
Für Sekunden, während er murmelnd seine Strategie plant, sieht sie statt ihrer letzten drei weißen Steine winzige Schäfchen, kleine weiße Lämmer, die »mäh« schreien. Vergebens.
Nach der fünften Partie steht er auf, um sich mit seinen Malschülern zu unterhalten. Sie nutzt die Gelegenheit, ihr Strickzeug hervorzuholen, strickt eifrig und schaut dabei in ihr aufgeschlagenes Buch. Schon ist er zurück und baut die Steine neu auf.
»Darf ich die Reihe zu Ende stricken?«, fragt sie.
»Wir können schon anfangen«, erwidert er, »wenn Sie beim Stricken lesen können, dann können Sie auch spielen.«
Und schon verliert sie wieder. Sie findet keine Strategie. Wenn sie sich allzu blöd stellt, wird er sauer werden und sie anschnauzen. Wenn sie versucht, gut zu spielen, muss sie sich einen Schlachtplan überlegen. Während sie überlegt, trommelt er mit den Fingern: »Ja nu.« Zu gut darf sie ohnehin nicht werden, sonst denkt er am Ende noch, es macht ihr Spaß.
»Ihnen fehlt bloß die Routine«, bemerkt er und stellt die Steine neu auf, »wenn Sie erst mal Übung haben, dann macht es auch Spaß!«
Das tut es nicht. Aber nicht deshalb, weil sie keine Übung hat. Sondern umgekehrt: Sie hat keine Übung, weil sie überhaupt nicht gerne spielt.
»Sie werden sehen«, bemerkt er und stellt die Steine neu auf, »es macht Spaß, gegen einen Meister zu spielen, und ich bilde mir ein, ein Meister zu sein!«
Warum spielt er dann gegen sie?
Wenn er sich über das Spielbrett beugt, alt, krumm und weißhaarig, sieht er aus wie ihr Vater. Ganz klein saß sie ihm gegenüber, baumelte mit den Beinen, die Zöpfe hingen über die aufgestützten Arme. Während ihr Vater einen Stein zog, schob er einen anderen mit dem Ellbogen ein Feld weiter.
»Du mogelst ja!«, rief sie empört.
Ihr Vater schob den Stein wieder zurück und sagt: »Einmal mogeln ist erlaubt!«
Der alte Mann sieht aus wie ihr Vater, kurz bevor er das letzte Mal zur Chemo musste und nicht zurückkam.
Sie zieht einen Stein. Der Alte schnalzt unwillig, murmelt: »Und was soll ich armer Mann jetzt machen?« und schiebt einen Stein vor, den sie schlagen muss, worauf er im nächsten Zug bis ans Spielfeldende hüpft und eine Dame gewonnen hat.
Warum kümmert er sich nicht endlich um seine Schüler? Helmut hat sein Bild total blöd aufgeteilt, das sieht sogar ein Laie wie sie. Die Hausfront ist viel zu groß, das Fenster seitlich angeschnitten, der Busch unter dem Fenster kann sich nicht entscheiden, ob er in der Sonne oder im Schatten wächst, das Regenrohr ist platt wie ein Brett. Warum geht er nicht dorthin und kümmert sich, statt sie mit Damespielen zu plagen?
Er stellt die Steine neu auf und ruft:
»He, Helmut! Streich das Rohr grün!«
schmollfisch - 23. Sep, 23:36