Weg damit ...

Ich habe einen Ohrring verloren. Es war kein kostbarer Ohrring, nur ein Bergkristall in einer Silberfassung. Ein ungewöhnliches Stück allerdings. Das Teil, das auf dem Ohrläppchen sitzt, war wie eine silberne Rosenblüte geformt. Die Bergkristallkugel, zu Facetten geschliffen, hing darunter in einem Netz aus feinen Silberdrähten. Ich habe die Ohrringe gern getragen. Und sie stammten aus meinem liebsten Schmuckgeschäft, dem in Tossa, an der katalanischen Küste; einem Geschäft, das ich sechs Jahre lang jeden Sommer besuchte. Inzwischen ist das Schuckgeschäft weg und hat einer Burgertheke Platz gemacht.
Einer der Ohrringe fehlt.
Verloren habe ich ihn auf einem Schäferfest. Sonntag vor zwei Wochen war ich dort, und fast drei Stunden habe ich mich aufgehalten. Das Fest fand in der Reithalle statt und auf dem Gelände rundherum, im Grünen. Als ich ankam, war herrliches Wetter. Die Wiesen rund um die Reithalle waren in kleine Koppeln aufgeteilt. Überall blökten Schafe. Ich habe die dicken großen Heidschnucken bewundert, die man bei uns kaum zu sehen bekommt, mit silbergrauen Rücken, grob wie Teppichwolle, und herrlich starken gewundenen Hörnern. Daneben die Rhönschafe, die hier jeder kennt, zottig und gelb vor Wollfett, mit schwarzem Kopf. Und die kleinen lockigen Skuddenschafe, dunkelbraun und karamellbraun und honigfarben. Und die sanften Scottish Blackface mit den dunklen Gesichtern und dem flaumweichen Fell, die aussehen wie Wollknäuel auf Beinen. Man möchte hineinfassen und kraulen, aber das lassen sie nicht zu. Die meisten Schafe mögen nicht angefasst werden. Wenn man sich allzu aufdringlich nähert, wenden sie sich alle miteinander um und wechseln die Ecke. Sie bewegen sich so kunstvoll synchron wie ein Vogelschwarm oder eine Gruppe Delfine. Auch das ist ein schöner Anblick.
Dann ging ich in die Reithalle, wo ein Stand aufgebaut war, an dem Kinder probieren können, wie man Wolle zu dicken Stoffen filzt. Und dort war ein Spinnrad aufgestellt, an dem niemand saß. Die Inhaberin des Filzstandes hatte eigentlich ein wenig spinnen wollen, kam aber nicht dazu; zu dicht war das Gedränge an dem Stand. Mit kurzem Winken lud sie mich ein, mich ans Spinnrad zu setzen. Ich rückte mir einen Stuhl hinter das kleine Ziegenrad und spann eine ganze Spule voll mit dunkelgrauem, weichem Wollgarn, während Dutzende von Leuten vorbeiliefen, spöttische oder auch anerkennende Bemerkungen machten, kluge oder dämliche Fragen stelltem. Als die Spule voll war, musste ich aufhören - die Spule war viel zu klein.
Dann ging ich noch einmal hinaus hinter die Reithalle, wo die Hütevorführungen stattfanden. Hier war ein Parcours aufgebaut, der wohl eigentlich dazu gedacht war, die Springpferde zu trainieren. Heute durften die herumliegenden Baumstämme und Latten die Schikanen für Hütehunde dienen. Leider war die Hütevorführung schon vorbei; ich war zu spät dran, hatte zu lang gesponnen. Ein paar Schafe standen noch in der Umzäunung. Auch hier wieder die kleinen, lockigen Skuddenschafe. Die Hunde saßen habacht dabei - Hunde mit menschlichen Gesichtern, mit schwarzen Knickohren, einer weißen Maske im Gesicht, aufmerksam und arbeitsfreudig. Ein dampfender Spätsommerregen ging nieder, als ich in den Parcours trat; es regnete warme Spülwasserblasen. Ich habe mich nur noch ein wenig umgesehen und mich dann zum Auto getrollt, um nach Hause zu fahren. Im Gepäckraum einen Plastiksack voll Romanov-Wolle - eben jene, die ich an dem Filzstand gesponnen hatte - und einen Beutel braunes Bergschaf.
Erst spätabends, als ich meine Ohrringe ablegen wollte, merkte ich, dass einer fehlte.
Eine Woche später, wieder am Sonntag, bin ich wieder auf dem Gelände, um ihn zu suchen.
Alles weg, die Schafe, die Koppeln. Ein paar Strohhalme liegen noch umher. Von dem Filzstand in der Reithalle keine Spur mehr; nur noch die übliche Sandaufschüttung, von Hufspuren zerfurcht. Hinter der Reithalle der Parcours wie vordem. Baumstämme, Zaunlatten. Im nahen Wald schreien die Elstern. Ich suche pflichtschuldig den Rasen ab, ohne Hoffnung, meinen Ohrring wiederzufinden.
Hier war - ungefähr - der Hütezaun, hier saß der arbeitsfreudige Hund. Das Rolltor zur Reithalle ist zu; eine Dame in Reitstiefeln versichert mir, der Sandboden sei inzwischen abgezogen und gewässert worden, aber sie werde wegen meines Ohrrings herumfragen. Hier war der Eingang, daneben ein Wurststand, der ist natürlich jetzt auch weg. Hier war das Podest, wo der Schafscherer sich betätigte - es liegen noch Wollflusen herum. Hier die Eindrücke der mobilen Zaunpfähle und dazwischen Strohbüschel, wo sich die schwarzköpfigen Rhönschafe, die grauen Heidschnucken, die sanften Scottish Blackface, die kleinen lockigen Skudden gedrängt haben. Ich schreite alle Wege ab und suche nach meinem Ohrring. Ich finde ihn nicht. Es tut mir nicht leid.

Blubbern als Kunst!

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"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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