Goldene Gurken

Jetzt reichts.
Es ist an der Zeit, einen Preis zu vergeben, der schon lange fällig ist: die goldene Gurke für sinnlose Ermittlertode. Mit sinnlos meine ich: Der Ermittler hat nichts Böses getan, war nicht korrupt, hat sich nicht zwischen einen Bankräuber und seine Geisel geschmissen, und sein Tod bringt auch den Roman, in dem er vorkommt, nicht wirklich voran. Er stirbt einfach so – um es mit einem Ausdruck zu benennen, den ich im Blauen Salon gelesen habe: er stirbt einen platten Tod für nichts. Ich vergebe hiermit die erste Gurkenreihe!

Platz drei unserer Gurkentruppe belegt Unni Lindell, die ein Mitglied ihrer Serien-Riege anscheinend plötzlich nicht mehr leiden mochte; oder vielleicht wollte der Herr auch nicht mehr in einem ihrer Romane mitspielen. Der Ermittler Ulriksen war der Attraktivste in Lindells Bullenaufgebot. Laut Lindell sah er aus wie David Beckham, was an sich vielleicht noch nicht viel bedeutet, aber alle anderen, Isaksen, Hoibakk, Tengs und wie sie alle heißen haben nicht mal jemanden, dem sie ähnlich sehen. Will ein guter Romanautor einen Serienermittler los sein, macht er sich die Mühe und schreibt ihn mit Anstand aus dem Buch heraus. Unni Lindell, deren Bücher ich übrigens ganz gerne lese, lässt ihren Ulriksen in ihrem Krimi „Was als Spiel begann“ einfach bei der Flutkatastrophe in Südasien ertrinken. Ex und hopp. Toll. Und warum? Weil wir sonst nicht wüssten, dass der Roman 2004 spielt? Ein anderer Grund fällt mir jedenfalls nicht ein.

Platz zwei belegt ein ganz anderes Buch, denn hier wird nicht speziell eines sinnlosen Todes gestorben, sondern die Masse an Todesfällen macht die Sinnlosigkeit. Es geht um Grangés „Imperium der Wölfe“. Meine Tochter hat dieses Buch noch vor mir gelesen, weil sie im Urlaub nach Lesestoff suchte und der Grangé das einzige war, was es gab, außer Hohlbein. Irgendwann im letzten Viertel sagte sie zu mir: „Ich weiß nicht, wer diesen Fall noch aufklären soll und warum, es sind ja alle tot.“ Der Polizist Paul ist tot und sein Chef Schiffer auch (wie gern genommen bei Grangé ein dynamischer Junger und ein abgeklärter Alter, beide um ihren Lebensabend gebracht), die meisten Verdächtigen sind tot und die Hauptperson, um deren Rettung es die ganze Zeit ging, ist auch tot. Diejenige, die am Ende übrig bleibt, ist genau die Person, auf die ich nie im Leben gekommen wäre und die auch irgendwie in der Geschichte gar nichts zu sagen hat bis auf den Umstand, dass sie, Gott weiß warum, am Ende übrig bleibt. So sehr ich Grangés bizarr-bescheuerte Plots schätze: das ist des Guten zuviel. Eine goldene Gurke zweiter Klasse für ihn.

Die Obergurke aber bekommt (Trommelwirbel!) Jan Seghers, übrigens ein ganz ausgezeichneter Krimischreiber, über dessen Bücher ich mich jedes Mal freue. In „Partitur des Todes“ lässt er einen der nettesten und interessantesten Ermittler seit langem einfach hops gehen, und das noch ehe der Mann Gelegenheit hatte, sich richtig zu profilieren. Er wird als Angehöriger des LKA einer örtlichen Bullenkommission zugeteilt und zieht als solcher natürlich sofort den Unwillen der Kollegen auf sich. „Wie fühlt man sich eigentlich, wenn man von allen als Siegertyp behandelt wird?“, wird er hämisch gefragt und antwortet nach kurzer Pause leise: „Ich hab Hunger.“ Noch nie habe ich erlebt, dass ein Detektiv spritziger und vielversprechender eingeführt wurde. Ich habe mir die Hände gerieben und mich auf eine schöne lange Romanreise mit diesem Superbullen gefreut, einem „empfindsamen Riesen“, der vor dem Essen betet und bei einem auswärtigen Einsatz zuerst daran denkt, seiner Freundin ein Kettchen mitzubringen. Nix da! Lange vor Ende der Untersuchung stirbt der gute Mann, dem eine echte krimileserische Heldenverehrung entgegenzubringen ich bereit und willens war, einen völlig sinnlosen Tod. Wie meine Facebook-Freundin sehr treffend bemerkte: Da fühlt man sich um eine gute Freundschaft betrogen! Vielleicht lag genau hier das Problem des Autors: der Mann war einfach zu gut; er drohte seinem Chefermittler Marthaler in der Lesersympathie den Rang abzulaufen? Oder – was dem Tod immerhin einen Hauch von Sinn geben könnte – Seghers wollte dem Superbullen sein Geheimnis nicht nehmen; vielleicht auch deshalb nicht, weil es ihm nicht gelang, eine Biographie für ihn zu erfinden, die seine Persönlichkeit angemessen aufhellen könnte? So oder so, ich verzeihe Herrn Seghers diese Wendung erst dann, wenn in einem seiner nächsten Bücher die Identifizierung sich als Fake erweist. Falsch eingeordneter Zahnstatus vielleicht? Bis dahin darf Seghers die goldene Gurke erster Klasse behalten.

Ehe sich hier jemand ernsthaft auf den Schlips getreten fühlt, stopfe ich diesen ganzen Absatz in die Vitrine für gewagte Thesen und kündige für demnächst einen weiteren Preis an, diesmal einen musikalischen: den goldenen Riesenspargel für Operngesang in extremen Stellungen. Später mehr.

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