Wenn ich ...

Wenn ich ein Roman wäre, kämen so viele verschiedene Leute mit schwer zu merkenden Namen in mir vor, dass niemand mich zu Ende läse. Selbst Leser, die eine Personenliste führen, kämen nicht mit mir zu Rand, weil meine Hauptfigur im ersten Drittel etwa Peinlich hieße, im zweiten Weinrich und im letzten Heimlich. Dafür wäre ich aber sehr dick, so dass mein Besitzer ein Loch in mich schneiden und seinen Likörvorrat darin verstecken könnte. Dann wäre ich trotzdem zu etwas nütze.

Wenn ich ein Geigenkasten wäre, enthielte ich keine Geige. Ich würde mein Leben lang darauf warten, dass jemand kommt und eine in mich hineinlegt. Es wäre vergebens. Vielleicht würde eines Tages ein Geigenbogen in mich gelegt, der aus Hochmut kein Wort mit mir spricht.

Wenn ich eine Brille wäre, würde ich nur abends getragen, in der letzten halben Stunde, bevor meine Besitzerin schlafen geht. Ich hätte nichts anderes anzugucken als den Computerbildschirm und die Weinflasche. Tagsüber, wenn meine Besitzerin spannende Krimis liest oder den Himmel betrachtet, wäre ich ins Etui verbannt. Ich wäre eine sehr frustrierte Brille und würde mir wünschen, dass meine Besitzerin eine Kontaktlinse verliert.

Wenn ich ein Gartenzaun wäre, würde ich das Atelier eines Bildhauers einzäunen, der monumentale Gipsmänner und –frauen fertigt. Ein Bildhauer, der alles, was ihm misslingt, durch das Fenster in den Garten wirft. Nackte Riesenfüße, Fäuste, Köpfe, gipserne Brüste. Einmal pro Woche käme der Inhaber des nächstgelegenen Gartencenters vorbei, würde über mich hinweglangen und all die gipsernen Körperteile auflesen, um sie in seinem Laden als Gartendeko zu verkaufen. Deshalb wäre ich ein sehr isolierter und in mich gekehrter Gartenzaun.

Wenn ich eine Mütze wäre, dann eine dickfellige Tschapka mit Ohrenklappen, die so warm ist, dass sie höchstens drei oder vier Tage im Jahr überhaupt getragen werden kann. Aber ich wäre eine schöne Mütze, und mein Besitzer würde sich über jeden polarkalten Tag freuen, um mich aufzusetzen. Vielleicht würde er januars in den Frostnächten am offenen Fenster sitzen, in eine Sofadecke gehüllt und mit mir auf dem Kopf. In jenen Morgenstunden, in denen der Frost hauchfein zu Boden rieselt und alles Gewachsene im Eis verstummt, würde er am Fenster sitzen, meine Klappen über seine blau gefrorenen Ohren ziehen und mir Kirschen erzählen bis in den Kern.

Blubbern als Kunst!

brille

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"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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