Shardik
Was geschähe, wenn der Messias heute auf die Erde zurückkehrte? Uralte Frage, unzählige Male literarisch verarbeitet - und natürlich ist die Antwort immer von der Geschichte unserer Kirche beeinflusst, siehe Dostojewkis Großinquisitor-Legende. Aber es geht auch anders.
Man stelle sich einen Wald vor, an dessen Rand ein Volk von Jägern und Fischern haust, gerade kunstfertig genug, um Seile zu drehen, Boote zu bauen und mit Angeln oder Pfeil und Bogen Jagd zu machen. Einst hat dieses Volk weit im Süden eine blühende Stadt besessen, doch das ist lange her, und seit es daraus vertrieben wurde, ist es auf den Stand halber Barbarei zurückgesunken. Nun breitet sich nördlich des Flusses, an dem dieses Volk wohnt, ein Waldbrand aus, der neben einer Menge anderer Tiere einen gewaltigen Bären zum Fluss treibt, eine gut zweimal mannshohe Bestie, stark genug, um ein Haus zusammenzuschlagen. Und dieser Bär erscheint dem Volk als Retter, als Zeichen, dass es nunmehr dazu berufen ist, die Stadt zurückzuerobern.
Von außen betrachtet, ist es schwer nachvollziehbar, warum eine Horde von Menschen, die sich als Priester begreifen, das Objekt ihrer Verehrung kunstfertig betäuben (eine Priesterin wird dabei zerquetscht), in Ketten legen, in einen Käfig sperren und zweihundert Kilometer weit in eine Stadt zerren, um es dort in einer Festung unterzubringen und ihm zu huldigen. Der Mensch zahlt es seinem Gott heim. Aber warum eigentlich? Was geht in den Köpfen vor? Eine solche Geschichte irgendwie globalauktorial zu erzählen, wie ich es gerade tue, ist keine Kunst. Kunst ist hingegen, die Gedanken, Pläne und Ziele der beteiligten Menschen zu beschreiben, mit nicht mehr als einer Handvoll Einzelner im Fokus, an deren Beispiel alles durchexerziert wird, was in einem solchen Fall an bewussten und unbewussten Motiven mitspielt. Nichts geschieht zufällig; jeder Beteiligte wird mit all seinen Wünschen, Ängsten und Visionen vorgeführt: die Priesterin, der Heerführer, der plötzlich zur Autoritätsperson avancierte einfache Fischer, der den Bären zuerst gesehen hat, und nicht zuletzt die Profiteure, denen es völlig egal ist, wer gewinnt, wenn sie nur ihren Sack voll machen können. Wenn die Stadt erobert ist, der Bär in der Stadtfestung Wohnung genommen hat und der einstige Jäger und Fischer zum Priesterkönig aufgestiegen ist, ist der Kulminationspunkt erreicht. Aber, wir ahnen es schon, es ist noch nicht das Ende.
Nun folgt der Abstieg, und zwar ebenso akribisch und sorgfältig vorgeführt wie der Aufstieg der ersten Hälfte. Der Bär kommt infolge eines misslungenen Attentatsversuchs frei, verlässt die Stadt und strebt seiner Heimat zu, und der Priesterkönig, der einstige einfache Fischer, muss ihm folgen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Der abgewickelte Faden der Geschichte wird quasi wieder aufgespult, aber unter sehr veränderten Vorzeichen. Der Priesterkönig findet nirgends Unterstützung, sieht sich vielmehr allein gelassen mit dem Bären, der infolge von Verwundung und Krankheit immer mehr verfällt. Kennt jemand die typische Kinoszene einer Auto-Verfolgungsjagd durch eine Großstadt? Links und rechts werden rücksichtslos Leute niedergemäht, andere Autos angefahren und schwere Unfälle ausgelöst; die Kamera kümmert sich nicht darum, sondern behält eisern die beiden Hauptbeteiligten im Fokus. Man stelle sich eine solche Verfolgungsjagd im Rückwärtsgang vor: die Verfolger müssen zu Fuß zurückwandern, sämtliche Trümmer auflesen und Verwundete bergen und pflegen. Genau das muss, symbolhaft, unser Priesterkönig tun. Er geht die komplette Spur seines Krieges ab und kommt am Schluss als völlig gebrochener Mann an das Westufer seines alten Heimatflusses, für ihn der Rand der bekannten Welt, denn diesen Fluss hat noch niemand, den er kennt, überschritten.
Ich erspare mir die letzte Konfrontation, den Gipfel des Elends, den Tod des Bären und die Katharsis der Hauptpersonen – ich will ja nicht das ganze Buch erzählen. Übrigens bekommt man es regulär nicht mehr, jedenfalls nicht in Deutsch. Meine Taschenbuchausgabe ist vor zehn Jahren auseinandergefallen und mit etwas Mühe konnte ich antiquarisch eine gebundene Ausgabe ergattern, die zu meinen Fixstartern für die Insel gehört; und das, obwohl ich außer „Der Herr der Ringe“ und „Gormenghast“ jede Fantasyliteratur in weitem Bogen umfahre. Der Autor unseres Bärenromans, Richard Adams, ist in den Siebzigern durch eine im besten Sinn anrührende Kaninchengeschichte weltberühmt geworden. Obwohl ich im allgemeinen Hasen vor Bären den Vorzug gebe, ist „Shardik“ meiner Meinung nach das bessere Buch als „Watership Down“. Nachdem ich dieses Buch seit 1980 zum dritten Mal gelesen habe, denke ich wieder mal darüber nach, warum eigentlich manche Bücher zu Bestsellern werden und andere, die ein Millionenpublikum verdient hätten, nach wenigen Jahren wieder in der Versenkung verschwinden. Falls einem meiner Leser auf irgendeinem Ramschtisch der Roman „Shardik“ in die Hände fällt, bitte zugreifen. Es ist eines der besten Bücher, die ich kenne. (Die Taschenbuchausgabe ist bemerkenswert dämlich illustriert, aber in gebundener Form macht das Buch ohnehin mehr Spaß).
Ach ja, ich wollte eigentlich den „Wüstenplanet“ lesen, da ich vor kurzem noch mal Gelegenheit hatte, mich über die unfreiwllige Komik der DiLaurentis-Verfilmung schlappzulachen. Nachdem ich immerhin 150 Seiten bewältigt hatte, ließ meine Energie erdrutschartig nach. Ich griff mir „Shardik“ und fraß die über 500 Seiten an einem einzigen Wochenende. Es wird nicht das letzte Mal sein.
Man stelle sich einen Wald vor, an dessen Rand ein Volk von Jägern und Fischern haust, gerade kunstfertig genug, um Seile zu drehen, Boote zu bauen und mit Angeln oder Pfeil und Bogen Jagd zu machen. Einst hat dieses Volk weit im Süden eine blühende Stadt besessen, doch das ist lange her, und seit es daraus vertrieben wurde, ist es auf den Stand halber Barbarei zurückgesunken. Nun breitet sich nördlich des Flusses, an dem dieses Volk wohnt, ein Waldbrand aus, der neben einer Menge anderer Tiere einen gewaltigen Bären zum Fluss treibt, eine gut zweimal mannshohe Bestie, stark genug, um ein Haus zusammenzuschlagen. Und dieser Bär erscheint dem Volk als Retter, als Zeichen, dass es nunmehr dazu berufen ist, die Stadt zurückzuerobern.
Von außen betrachtet, ist es schwer nachvollziehbar, warum eine Horde von Menschen, die sich als Priester begreifen, das Objekt ihrer Verehrung kunstfertig betäuben (eine Priesterin wird dabei zerquetscht), in Ketten legen, in einen Käfig sperren und zweihundert Kilometer weit in eine Stadt zerren, um es dort in einer Festung unterzubringen und ihm zu huldigen. Der Mensch zahlt es seinem Gott heim. Aber warum eigentlich? Was geht in den Köpfen vor? Eine solche Geschichte irgendwie globalauktorial zu erzählen, wie ich es gerade tue, ist keine Kunst. Kunst ist hingegen, die Gedanken, Pläne und Ziele der beteiligten Menschen zu beschreiben, mit nicht mehr als einer Handvoll Einzelner im Fokus, an deren Beispiel alles durchexerziert wird, was in einem solchen Fall an bewussten und unbewussten Motiven mitspielt. Nichts geschieht zufällig; jeder Beteiligte wird mit all seinen Wünschen, Ängsten und Visionen vorgeführt: die Priesterin, der Heerführer, der plötzlich zur Autoritätsperson avancierte einfache Fischer, der den Bären zuerst gesehen hat, und nicht zuletzt die Profiteure, denen es völlig egal ist, wer gewinnt, wenn sie nur ihren Sack voll machen können. Wenn die Stadt erobert ist, der Bär in der Stadtfestung Wohnung genommen hat und der einstige Jäger und Fischer zum Priesterkönig aufgestiegen ist, ist der Kulminationspunkt erreicht. Aber, wir ahnen es schon, es ist noch nicht das Ende.
Nun folgt der Abstieg, und zwar ebenso akribisch und sorgfältig vorgeführt wie der Aufstieg der ersten Hälfte. Der Bär kommt infolge eines misslungenen Attentatsversuchs frei, verlässt die Stadt und strebt seiner Heimat zu, und der Priesterkönig, der einstige einfache Fischer, muss ihm folgen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Der abgewickelte Faden der Geschichte wird quasi wieder aufgespult, aber unter sehr veränderten Vorzeichen. Der Priesterkönig findet nirgends Unterstützung, sieht sich vielmehr allein gelassen mit dem Bären, der infolge von Verwundung und Krankheit immer mehr verfällt. Kennt jemand die typische Kinoszene einer Auto-Verfolgungsjagd durch eine Großstadt? Links und rechts werden rücksichtslos Leute niedergemäht, andere Autos angefahren und schwere Unfälle ausgelöst; die Kamera kümmert sich nicht darum, sondern behält eisern die beiden Hauptbeteiligten im Fokus. Man stelle sich eine solche Verfolgungsjagd im Rückwärtsgang vor: die Verfolger müssen zu Fuß zurückwandern, sämtliche Trümmer auflesen und Verwundete bergen und pflegen. Genau das muss, symbolhaft, unser Priesterkönig tun. Er geht die komplette Spur seines Krieges ab und kommt am Schluss als völlig gebrochener Mann an das Westufer seines alten Heimatflusses, für ihn der Rand der bekannten Welt, denn diesen Fluss hat noch niemand, den er kennt, überschritten.
Ich erspare mir die letzte Konfrontation, den Gipfel des Elends, den Tod des Bären und die Katharsis der Hauptpersonen – ich will ja nicht das ganze Buch erzählen. Übrigens bekommt man es regulär nicht mehr, jedenfalls nicht in Deutsch. Meine Taschenbuchausgabe ist vor zehn Jahren auseinandergefallen und mit etwas Mühe konnte ich antiquarisch eine gebundene Ausgabe ergattern, die zu meinen Fixstartern für die Insel gehört; und das, obwohl ich außer „Der Herr der Ringe“ und „Gormenghast“ jede Fantasyliteratur in weitem Bogen umfahre. Der Autor unseres Bärenromans, Richard Adams, ist in den Siebzigern durch eine im besten Sinn anrührende Kaninchengeschichte weltberühmt geworden. Obwohl ich im allgemeinen Hasen vor Bären den Vorzug gebe, ist „Shardik“ meiner Meinung nach das bessere Buch als „Watership Down“. Nachdem ich dieses Buch seit 1980 zum dritten Mal gelesen habe, denke ich wieder mal darüber nach, warum eigentlich manche Bücher zu Bestsellern werden und andere, die ein Millionenpublikum verdient hätten, nach wenigen Jahren wieder in der Versenkung verschwinden. Falls einem meiner Leser auf irgendeinem Ramschtisch der Roman „Shardik“ in die Hände fällt, bitte zugreifen. Es ist eines der besten Bücher, die ich kenne. (Die Taschenbuchausgabe ist bemerkenswert dämlich illustriert, aber in gebundener Form macht das Buch ohnehin mehr Spaß).
Ach ja, ich wollte eigentlich den „Wüstenplanet“ lesen, da ich vor kurzem noch mal Gelegenheit hatte, mich über die unfreiwllige Komik der DiLaurentis-Verfilmung schlappzulachen. Nachdem ich immerhin 150 Seiten bewältigt hatte, ließ meine Energie erdrutschartig nach. Ich griff mir „Shardik“ und fraß die über 500 Seiten an einem einzigen Wochenende. Es wird nicht das letzte Mal sein.
schmollfisch - 4. Mai, 00:17