Rein. Raus.

Ein bekannter Schauspieler. Behaupten meine Gesprächspartner im Speisesaal, zitieren die Fernsehzeitung, geben Sendezeiten an, nennen ihn „den anderen Dicken, neben dem, den Sie kennen, dem berühmten, Sie wissen ja“. Vorabendprogramm. Gucke ich nie. Den berühmten Dicken kenne ich, den anderen Dicken nicht. Auch nicht, als er mir endlich gezeigt wird, nachmittags auf der Sonnenterrasse. Er sitzt im Rollstuhl und trinkt Bier. Vor sich die Zeitung, die Zigarettenschachtel.
Er will nicht angesprochen werden, teilt man mir mit. Dann wird er grantig. Vorsicht. Keine Autogrammwünsche.
Das glaube ich gern. Er sieht explosiv aus mit dem feuerroten Kopf, dem Doppelkinn, den finster gerunzelten Augenbrauen. Er trägt Spezialschuhe, die nicht zum Laufen taugen, was auch sinnlos wäre, da er ohnehin nicht laufen kann. Die Schuhe sind oben und unten dick gepolstert. Er raucht ununterbrochen. Liest die Zeitung. Verharrt eine Viertelstunde lang mit in den Kopf gestützter Hand. Bejaht dem Kellner, der das leere Glas wegräumt und „noch eins?“ fragt. Ein neues Glas wird hingestellt. Neue Zigarette. Einen Käsekuchen.
Abends im Speisesaal belehrt man mich, dass er sicher schwere Sorgen habe, er habe schlimme Diabetes, nicht wahr, und die Ärzte wollten ihm einen Fuß „abnehmen“. Abnehmen. Komisches Wort. Die meisten hier wollen abnehmen. Das ist das Grundübel. Man nimmt den Leuten das Gepäck ab, den Therapieplan bei Betreten des Schwimmbads, das Handy, die Anamnese (was mich immer an Amnesie erinnert) und mit zweifelndem Zungenschnalzen die Behauptung, dass man gar nicht recht wisse, wieso man überhaupt hier sei, da Blutdruck Zucker Gewicht Alkohol Nikotin doch alles im Rahmen sei.
Der bekannte Schauspieler, denke ich ein wenig patzig, sollte sich nicht so anstellen. Dem Aussehen nach ist er mindestens Mitte sechzig. Trinkt Bier und raucht Kette. Warum auch nicht. Er kann sich ja zur Ruhe setzen.
Am nächsten Tag sehe ich den bekannten Schauspieler das erste Mal lachen. Es geschieht im Fitnessraum. Er fährt mit dem Rollstuhl ein Gerät, dessen Zweck ich aus meiner Position (auf dem Trainingsfahrrad sitzend) nicht genau erkennen kann, aber er steckt seine Chipkarte ein, zieht probeweise an den Haltegriffen, setzt sich in Positur, bringt die Zeitung in Anschlag, liest einen langen kleingedruckten Artikel (sicher Feuilleton), zieht dabei rhythmisch an den Griffen, dass die Adern an seinen dicken Armen hervortreten, bläst die Backen auf und lacht über etwas, was in der Zeitung steht.
Da haben die Ärzte wohl Entwarnung gegeben, sagt man mir im Speisesaal. Der Fuß darf dranbleiben. Nachmittags sitzt er auf der Sonnenterrasse, Bier und Zigaretten neben sich, blinzelt in die Linde hinauf, grüßt den Kellner: Noch eines bitte.
Neugierig geworden, suche ich ihn nach meiner Heimkehr bei Google und stelle fest, dass er fünf Jahre jünger ist als ich, noch nicht mal fünfzig. Bisschen früh für Ruhestand.
Im Kloster Benediktbeuern habe ich mir eine Postkarte gekauft. Sie zeigt einen Hasen mit aufgerichteten Ohren und Aufschrift. Linkes Ohr: Da rein. Rechtes Ohr: Da raus.
Ich nehme mir die Zeitung vor, suche nach dem Vorabendprogramm. Auf den Googlefotos lacht er. Immer.

Blubbern als Kunst!

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"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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