Einst und jetzt

Zum x-ten Mal habe ich soeben Patricia Highsmith' Roman "Der süße Wahn" gelesen. Das Buch ist seit Jahren eines meiner liebsten, und zwar deshalb, weil Frau Highsmith hier eine meiner Lieblingskonstellationen exemplarisch vorführt: Der Protagonist, der dem Leser zunächst völlig normal erscheint. Bis der Leser merkt, dass das Roman-Ego und damit der Leser selbst einem völlig falschen Weltbild aufgesessen ist, sind schon so viele Seiten zurückgelegt, dass man es kaum schafft, sich aus der unheiligen Allianz mit der Hauptfigur wieder zu lösen.

Aber das nur am Rand, mir ist nämlich noch etwas anderes aufgefallen. In den Amazon-Kritiken zu diesem Buch findet sich folgender Satz:

Ich fand das mit den noch nicht vorhandenen Handys und der ständigen Suche nach einer Telefonzelle in dem Roman irgendwie befremdlich (obwohl es für die damalige Zeit ja logisch ist, dass es zu jener Zeit noch keine Mobiltelefone gab), weil man es heute eben anders gewohnt ist. Ebenso interessant und im ersten Moment gewöhnungsbedürftig fand ich Sätze wie "Er setzte sich an seinen Schreibtisch und tippte einen Brief (...) auf der Schreibmaschine" (anstatt am PC).

Das erinnert mich an einen Absatz in einem Roman von Sigrid Undset, in dem von "der Romantik des Automobils" die Rede ist und die Frage gestellt wird, ob sich spätere Generationen noch daran erinnern werden. Die Romantik des Automobils ist uns in den Zeiten des Klimawandels in der Tat abhanden gekommen. Beim Lesen solcher Zeilen kann man nur staunen darüber, wie schnell eine fundamentale Veränderung sich manchmal vollzieht. Undsets Roman spielt, wenn ich mich recht erinnere, hauptsächlich zwischen den Kriegen und ist in vielen Punkten durchaus aktuell.

Aber zurück zu Patricia Highsmith. Der Grund, warum ich sie hier erwähne, ist nämlich folgender:
Ihr Held David Kelsey ist seit Jahren verliebt in eine Frau, die einen anderen geheiratet hat. David hält das für einen fatalen Irrtum ihrerseits und ist überzeugt, dass sie sich irgendwann für ihn entscheiden wird. Bis dahin wartet er halt und schreibt ihr verliebte Briefe. Als gut verdienender Ingenieur hat er sich ein Haus auf dem Land gekauft, in dem er nur an den Wochenenden wohnt und das er für seine Angebetete eingerichtet hat. Und nun kommt der springende Punkt: Das Haus hat er unter einem anderen Namen, nämlich dem Namen William Neumeister, gekauft.
Es ist amüsant zu sehen, wie im weiteren Verlauf Bekannte von David ihm nachspionieren und irgendwann verwundert feststellen, dass er jedes Wochenende in einem Haus verschwindet, das William Neumeister gehört. Was mag sich dort wohl abspielen? Warum verschweigt David Kelsey beharrlich, wo er freitags nach Dienstschluss hinfährt? "Ein Freund von mir. Guter alter Bill!", schmunzelt er, als ein Kollege ihn darauf anspricht. Jedes Wochenende?
Einem heutigen Leser würde da sofort die einzig naheliegende Schlussfolgerung einfallen: David Kelsey muss schwul sein und gibt es nicht zu. Klasse. Patricia Highsmith' Personal denkt nicht im entferntesten an so etwas. Die Leute finden alle möglichen Deutungen, nur nicht die eine, die dem heutigen Leser sofort ins Auge springen würde.

So ändern sich die Zeiten. Und ich denke darüber nach, wie dieser Roman wohl heute geschrieben würde.

Habe ich schon erwähnt, dass es einfach ein geniales Buch ist?

Vielleicht dauert es nur noch wenige Jahre und es wird unter Historica geführt.

Blubbern als Kunst!

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