Sei Ewald in Frührente ist – warum auch immer, behindert ist er eigentlich nicht, oder er ist jedenfalls jetzt nicht mehr behindert, als er es von jeher war – seit Ewald also in Frührente ist, hat er sich ein neues Hobby zugelegt. Er baut Holzskulpturen. Ich vermute, er hat einen Waldbesitzer im Bekanntenkreis, der ihm Baumstämme schickt, jedenfalls lagern vor Ewalds Haus jede Menge Baumstämme auf dem Bürgersteig und daneben ist sein Arbeitsplatz. Ich kann es formulieren wie ich will, es läuft immer auf die bittere Wahrheit hinaus: Ewald baut Holzskulpturen auf dem Bürgersteig.
Früher hat er angeblich hinten in seinem Garten gearbeitet. So lautet das Gerücht. Mitbekommen habe ich davon nichts. Jedenfalls soll die Ewaldine gemeutert haben, dass ihre Blumen voller Holzspäne sind und sie jeden Salatkopf viermal waschen muss. Und die Nachbarn nach hinten, hört man, haben sich auch beschwert, aber da weiß ich wie gesagt nicht sicher. Jetzt steht Ewald auf dem Bürgersteig. Er baut seinen Baumstamm vor sich auf, hochkant, und beginnt, eine Skulptur daraus zu machen. Dabei geht er vor wie in dem alten Bildhauerwitz: Wenn er etwa eine Eule haben will, nimmt er seine Säge in die Hand und sägt alles weg, was nicht nach Eule aussieht.
Jetzt ist das Stichwort „Säge“ gefallen. Ja, es ist leider an dem, dass Ewald eine Säge hat. Sie ist benzinbetrieben, sie kreischt, rattert, dröhnt und stinkt. Sie KREISCHT. Und RATTERT. Und STINKT. Ewald selbst trägt Schutzbrille und Ohrstöpsel und merkt in seiner schöpferischen Raserei vermutlich nicht viel von dem Lärm. Dafür merke ich um so mehr. Wenn ich morgens die Kübelpflanzen auf meiner Terrasse gegossen habe, ist gleich danach schon das erste Aspirin fällig, weil mir der Kopf dröhnt. Manchmal will Ewald mittags etwas essen und verlässt den Bürgersteig, dann kann ich auch auf meiner Terrasse etwas essen oder einen Kaffee trinken. Dann legt die Säge wieder los und ich muss schnell wieder hinein, die Fenster schließen und noch ein Aspirin nehmen. Vielleicht bekommt Ewald Provision von Bayer?
Ewalds Plastiken sind übrigens recht hübsch, in seinem Vorgarten stehen schon ein lebensgroßer Zwerg (also, ein wirklich recht großer Zwerg), ein Reiher, ein Geier, ein Biber (überlebensgroß) und ein Hase, der Männchen macht. Der Hase gefällt mir sogar richtig gut, aber ich werde den Teufel tun und Ewald fragen, ob ich ihn (also den Hasen) haben kann. Ich will überhaupt nichts mehr von Ewald, ich will nur, dass er AUFHÖRT!!!
Gestern bin ich rübergegangen und habe ihm erstmal Komplimente gemacht. Er hat sogar die Säge abgestellt, um von mir zu hören, wie toll er sägt. Dann habe ich ihn gefragt, ob er eigentlich ein Gewerbe angemeldet hat und die Plastiken verkauft. Vielleicht stehen sie ja schon bei Dawanda, und ich habe wieder mal nichts mitgekriegt? Nein, die verschenkt er, an sehr gute Freunde, oder er stellt sie in seinem eigenen Garten auf. Aber vielleicht meldet er irgendwann auch ein Gewerbe an, wenn noch mehr Leute kommen und ihm erzählen, wie toll seine Figuren sind. Er hat auch (erzählte er mir unaufgefordert) eine Genehmigung der Gemeinde, bis acht Uhr abends zu sägen. Weil es ja eine Liebhaberei ist, ist er nicht an die Richtlinien für Gewerbetreibende gebunden.
Ich habe mir erst mal verkniffen, zu fragen, ob er DURCHGEHEND bis acht Uhr abends sägen darf.
Statt dessen ging ich heute wieder hinüber und fing wieder an, ihm zu erzählen, wie toll er sägt. Gleich hat er die Säge wieder abgestellt, um das zu hören. So ein toller Künstler wie er, meinte ich, muss doch eigentlich ein Atelier haben. In Fulda gibt es solche Räume zu mieten, im alten Gleiswerk, die sollen sogar richtig stylish sein. Das kann er sich leider nicht leisten, hat er gemeint. Nicht als Frührentner. Vielleicht, wenn er erst sein Gewerbe angemeldet hat und die Miete für das Atelier von der Steuer absetzen kann. Aber das wird er erst dann machen, wenn Leute kommen und seine Figuren kaufen wollen. Vorher hat es ja keinen Sinn.
Der Hase gefällt mir verdammt gut, aber ich werde nicht fragen. Ich werde NICHT fragen! NEIN!!!
Aus Verzweiflung ging ich heute mittag zu meiner anderen Nachbarin hinüber, um sie zu fragen, ob sie eigentlich keinen Anstoß nähme an dem ununterbrochenen Kreischen der Säge. Meine andere Nachbarin hat die Terrasse auf der anderen Hausseite, weil sie ein Eckhaus hat. Auf ihrer Terrasse war wirklich kaum etwas zu hören. Sie saß mit der Zeitung in einem Liegestuhl und trank Kaffee. In der Terrassenecke stand ein über-überlebensgroßes hölzernes Eichhörnchen. Ich fragte sie gar nicht erst wegen der Säge, es wäre sinnlos gewesen.
Vor dem Haus gegenüber sind seit gestern hölzerne Riesenpilze aufgetaucht. Da nach Unterstützung zu suchen, hat wohl auch keinen Zweck.
Statt dessen denke ich jetzt nachts, wenn es schön ruhig ist, über Maßnahmen im Alleingang nach. Protestaktionen. Ich verlege meine häuslichen Tätigkeiten jetzt auch auf den Bürgersteig. Aber was bringt das? Ich könnte auf dem Bürgersteig Wolle spinnen, aber mein Spinnrad ist nicht laut genug. Ich könnte Bilder malen (dito) oder meine Wäsche bügeln (dito). Ich könnte auch Geschichten schreiben. Diese hier schreibe ich zum Beispiel gerade auf dem Bürgersteig, deshalb muss ich jetzt auch zu Ende kommen, weil der Akku an meinem Notebook in den letzten Zügen liegt. Aber all das ist ja nichts gegen Ewalds Säge; ich müsste mir etwas einfallen lassen, was WIRKLICH Anstoß erregt. Ein Gewerbe, das ich auf dem Bürgersteig betreiben könnte und das die Nachbarschaft so richtig stört. Ich wäre dann bereit, es einzustellen, wenn er seine eigene Sägerei einstellt. Was für Gewerbe betreibt man auf dem Bürgersteig? Aber ich kann nicht mehr richtig denken wegen des vielen Aspirin, mir fällt nichts Passendes ein. Und jetzt ist mein Akku auch endgü