Cora, Krieg und Frieden

Cora fuhr aus dem Halbschlaf hoch, als jemand auf der Straße einen verfrühten Kracher zündete. Gerade vor ihrem Schlafzimmerbalkon leuchtete eine Straßenlampe. Der frische Schnee auf den Dächern verstärkte ihren weißlichen Schein. Im Zimmer war es beinahe taghell.
Wenn Weihnachten endlich vorbei wäre! Cora warf sich auf die andere Seite und zog eine Ecke des Kopfkissens über das freiliegende Ohr. Ein weiterer Knallfrosch krachte, und in Gedanken fügte sie hinzu: »... und Silvester gleich mit!«
Es war gerade erst zweiter Advent, und Cora konnte bereits kein Tannengrün mehr sehen. Zimtsterne und Pfeffernüsse waren ihr seit Oktober verleidet, von Marzipan wurde ihr übel und bei jedem Gang durch die Innenstadt drehte ihr der Glühweinduft den Magen um. Beim Einkaufen dudelten ihr »Jingle Bells« und »Rudolph Raindeer« in die Ohren, bis sie der Drang überfiel, mit einer Axt zwischen die flittergeschmückten Regale zu fahren. Und selbst wenn sie zu Hause blieb und nur einen Blick aus dem Fenster warf, funkelten ihr aus allen Häusern Lichterketten und bunt blinkende Bäumchen entgegen.
Silvesterkracher am zweiten Advent waren dagegen erfrischend. Aber musste das mitten in der Nacht sein? Wie spät war es jetzt schon wieder? Cora tastete nach ihrem Wecker, fand ihn nicht und ließ die Hand schlaff herabsinken. Die Augen fielen ihr zu.
Peng! Kawumm! Mit einem Ruck fuhr sie empor und warf die Bettdecke weg. Vor der Balkontür wirbelte Schnee. Und – da hing ein Mensch. Coras Magen machte einen Satz, die Augen traten ihr fast aus dem Kopf: Über ihrem Balkongeländer hob sich deutlich der Kopf eines Mannes ab. Er hatte eine spitze Mütze auf, seine Hände in dicken Handschuhen lagen links und rechts des Kopfes auf der Brüstung.
Dem brate ich eins über! Cora sprang aus dem Bett und riss ihr Buch vom Nachttisch – eine gebundene Ausgabe von »Krieg und Frieden«. Sie stürzte durch die Balkontür. Oh nein! Über das Geländer schaute eine lebensgroße Weihnachtsmannpuppe, mit einer Strickleiter angebunden. Sein Gesicht grinste dümmlich zu ihr empor. Zwischen den gesträubten Brauen und dem Rauschebart leuchtete die rote Knollennase.
Wütend versetzte Cora ihm einen Schmiss gegen die Stirn. Natürlich – alles Vollplastik mit drei Weichmachern!
»Mistweihnachtsmann!«, schimpfte sie. Auch am Haus gegenüber baumelte ein ähnlicher Dummie vor dem Dachfenster. Und an dem Mietshaus daneben setzten zwei weitere zum Sprung über die Balkongitter an.
Cora schlurfte in ihr Schlafzimmer zurück und stolperte über einen Pantoffel. Müde kroch sie wieder ins Bett.
Wer hatte ihr dieses Ding an den Balkon gehängt? Wahrscheinlich ihr Nachbar Ewald. Der Drecksack! Coras Haus war das einzige undekorierte in der ganzen Straße. Das war Ewald ein Dorn im Auge. Er selbst hatte nicht gespart und schon Anfang November ein Arrangement vor sein Haus gebaut, das – wenn es leuchtete – einen sechsspännigen Rentierschlitten mit Weihnachtsmann darstellte. Tagsüber, wenn es nicht leuchtete, glich es einem postmodernen Kunstwerk aus spinnwebartig verknäulten Drähten.
»Geschmacksverirrung!«, schnaubte Cora und rieb ihre eiskalten Füße. Ein heißer Tee täte jetzt gut, doch sie hatte keine Lust, noch einmal aufzustehen. Langsam duselte sie ein.
Aufgehängte Weihnachtsmänner. Mit einem Ruck saß Cora aufrecht und hellwach im Bett. Irgendetwas stimmte nicht. Sie musste noch einmal nachschauen.
Wieder schlich sie zur Balkontür. Die Gestalt an ihrem Balkon hing still, auf der roten Mütze sammelten sich weiße Flocken. Doch an dem Mietshaus gegenüber, wo eben noch zwei Weihnachtsmänner gehangen hatten – da seilte sich ein dritter hoch! Er bewegte sich! Fassungslos beobachtete Cora, wie eine große rote Gestalt über das Balkongitter stieg und an der Tür rüttelte. Sie öffnete sich ohne weiteres.
Kam der fensterln? Aber da wohnte doch nur eine alte Dame mit weißen Löckchen. Jetzt kam er wieder heraus – mit einem vollen Sack. Klar, der stieg als Weihnachtsmann verkleidet in fremde Häuser ein und bediente sich!
Die Polizei anrufen? Ach was. Recht geschah es den Leuten. Wieso hängten sie sich auch alle diese roten Riesenpuppen vor die Häuser. Das war ja eine Einladung an Diebe! Cora überprüfte ihre eigene Balkontür – ja, gut verriegelt – und kehrte zurück ins Bett.
Vielleicht war ihr Nachbar Ewald mit den tausend Lämpchen das nächste Opfer, und wenn sie richtig Glück hatte, dann machte der Dieb die Illumination kaputt. Cora glitt in einen Traum, in dem Ewald als schwarz gekleideter Illuminat die Nachbarschaft unsicher machte.
Etwas bewegte sich dicht neben ihr; halb im Schlaf hörte sie Scharren und Rascheln. Ein eisiger Hauch fuhr durch die halboffene Tür. Flocken wehten herein. »Schöne Grüße vom Weihnachtsmann«, dachte Cora. Zu müde, um noch einmal richtig zu erschrecken, linste sie unter der Bettdecke hervor. Da – jetzt stand er bei ihr im Schlafzimmer. Der Weihnachtsmann! Rotleuchtend und riesig ragte er vor ihr auf. Eine Hand in rotem Fäustling hielt ihren Plüschpantoffel empor. Von der anderen Hand hing der Sack.
Wie war der hereingekommen? Helle Wut packte Cora. Ihre Hand tastete unter der Decke heraus. »Krieg und Frieden«. Sie bekam den Wälzer zu fassen und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen den Besucher. Und traf ihn mitten ins Gesicht. »Umpf!«, machte der Weihnachtsmann und griff sich an die Nase. Der Pantoffel fiel zu Boden und ein Hagelschauer von Nüssen prasselte herunter. Mandarinen kullerten in alle Richtungen. Die rote Gestalt wankte durch die Balkontür hinaus, den Sack hinter sich herschleifend, und hangelte unbeholfen über die Brüstung. Mit einem Plumps fiel die ganze Bescherung unter dem Balkon in den Schnee.
»Verdammt noch mal«, sagte Cora laut, aufrecht im Bett sitzend, »der war ja echt!«
Aus dem Pantoffel ragte eine Tafel Schokolade. Die Walnüsse und Haselnüsse waren bis in die hinterste Zimmerecke gerollt. Lebkuchen lagen auf dem Parkett herum.
»Dem hab ich’s aber gründlich gegeben!«, sagte Cora begeistert.
Jetzt musste sie wieder aufstehen und die Balkontür schließen. Aber das machte ihr gar nichts aus, so zufrieden war sie mit sich. Draußen fielen dicke Flocken. Das Zimmer duftete nach Mandarinen; die nasse Spur auf dem Fußboden trocknete bereits. Cora hob ihr Buch auf und ging in die Küche. Jetzt war ihr nach Lebkuchen und Rotwein zumute. Endlich.

Blubbern als Kunst!

brille

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"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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