Langsam

Der Maler ist kaum zu sehen zwischen den farbbeklecksten Tischen und Regalen mit hintereinander geschichteten Leinwänden. Er kommt mir schlurfenden Schrittes entgegen. Aus Wikipedia weiß ich, dass er Jahrgang 1930 ist, fast dreißig Jahre älter als ich. Ein bewegtes Leben.
Er ist klein, ungefähr auf Augenhöhe mit mir. Langes, in den Nacken hängendes weißes Haar, ein weißer Backenbart. Pantoffeln an den Füßen, farbverschmiertes Hemd. Sein Gang ist mühsam.
Von einem Telefongespräch vor sechs Wochen - und aus den Berichten gemeinsamer Bekannter - weiß ich, dass er ein Raunzer ist; ohne Erbarmen mit Leuten, die ihm die Zeit stehlen. Verständlich in seinem Alter. Aber er ist der Beste, nach ihm kommt nur noch Zweitklassiges. Ich spreche ihn vorsichtig an, überlasse dann das Reden meiner Tochter, die bei ihm Malunterricht nehmen will. Kommentarlos sieht er ihre Mappe durch, macht ihr ein Zeichenbrett zurecht und setzt sie vor ein Stillleben. Seine Bewegungen sind so langsam, als wanke er mit jedem Schritt auf einem Grat.
Ich habe einen Unfall gehabt, sagt er, haben Sie das Auto draußen gesehen?
Ich habe das Auto gesehen, aber da es im Skulpturengarten steht, hielt ich es für moderne Kunst. Ein roter Transporter mit eingedrückter Front, verdetscht sagen wir hier in Hessen. Die Windschutzscheibe zersplittert, die Türen verbeult, das Heck ist noch heil.
Das ist in der Nähe von Wien passiert, sagt er, da hat mir einer die Vorfahrt genommen. Vier Wochen ist das her.
Ich: Da haben Sie sich aber doch recht schnell erholt. (Ich kann nicht fassen, wie ein Herr von annähernd achtzig Jahren weitgehend unversehrt aus diesem verknitterten Auto gekrochen ist.)
Er: Ich bin gar nicht erst in die Klinik gegangen. Das war doch nicht möglich, mit den ganzen Bildern im Auto, die konnte ich nicht allein lassen. Jetzt muss ich zusehen, wie ich die restauriere. Er zeigt auf eine Leinwand, die ich gar nicht als Kunstwerk erkannt habe; sie ist einheitlich mitternachtsblau mit einem asymmetrischen weißen Kreuz mittendurch. Der Rahmen ist total verzogen Alles kaputt. Ich muss das alles in Ordnung bringen, da zählen die vier gebrochenen Rippen nicht.
Ich fühle mich sehr jung mit meinen 51 und gehe einkaufen, während meine 18jährige Tochter das Stillleben zeichnet, das er ihr vorgegeben hat.
Eine Stunde später komme ich zurück, nervös und angespannt. Vor sechs Wochen hat er mich am Telefon angeblafft, er könne nichts mit Leuten anfangen, die nicht wissen, was sie wollen, dafür sei seine Zeit zu kostbar. Was ist gelaufen in der Stunde?
Er steht neben meiner Tochter, über das Bild gebeugt. Sie soll es weglegen, lieber gar nicht weiter ausführen. Datum und Name drauf und ins Regal damit. Das ist schon sehr gut, sie ist unbedingt geeignet für seine Malklasse. Nächsten Freitag dann zur Einführungsveranstaltung und dann immer dienstags und mittwochs, von morgens zehn bis abends zehn ist er im Atelier, sie kann kommen und gehen, wie es passt. Er wird dann schon drauf sehen.
Er streichelt ihre Wange. Die ist wirklich gut, Sie können stolz sein, sagt er zu mir.
Seitdem freue ich mich. Ganz langsam und mit Genuss. Ich will mich lange freuen, deshalb freue ich mich langsam, immer wieder, in kleinen Portionen; so langsam wie sein Schritt, wenn er an die Restauration seiner Bilder geht. Vor wenigen Tagen habe ich mich noch geschämt zwischen den Schönen und Jungen an den Stränden in Südfrankreich. Jetzt bin ich wieder langsamer.
Die Front ist verbeult, aber die Bilder existieren noch, mitternachtsblau, durchbrochen mit einem weißen Kreuz. Nur leicht angeschlagen. Wir biegen das alles wieder gerade.

Blubbern als Kunst!

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"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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