Et incarnatus est

"Jeder weiß, was in Zimmer 101 ist. Was einen dort erwartet, ist das Schlimmste auf der Welt." (George Orwell, "1984")

Inspector Jefe (Chefinspektor) Falcon hat einen Toten vor sich, der sich gleichsam selbst ermordet hat, ohne es zu wollen. Die Leiche ist an einen Stuhl gefesselt, den Kopf in Richtung auf den Fernseher am Stuhl festgezurrt. Man hat den Mann offensichtlich gezwungen, sich etwas anzusehen, was er nicht wollte: er hat sich mit aller Kraft gegen die Fesseln gestemmt. Vergeblich. Sogar die Augenlider sind weggeschnitten. Gestorben ist er an Anstrengung und Angst.
"Der Blinde von Sevilla" von Robert Wilson ist mein zweiter Krimi, der Sevilla während der Karwoche (mit den Marienprozessionen und anschließender Feria) zum Schauplatz hat; der erste war "Semana Santa" von David Hewson. Beide Autoren sind keine Spanier, sondern Spanien-Journalisten. Für Hewson sind die Sevillaner während der Semana Santa entweder betrunken oder fanatisch oder beides. Für Wilson ist Sevilla, auch und gerade in der Karwoche, die fröhlichste Stadt Spaniens; und Inspector Jefe Javier Falcon, der zuvor in Madrid und Barcelona ermittelt hat, ist irgendwie viel zu ernst für Sevilla.
Es gibt mehr und mehr Tote, ein guter Freund Falcons, ein aufstrebender Torero, wird in der Arena vom Stier aufgespießt; Falcons eigene Familiengeschichte, die irgendwie in die Ermittlung involviert ist, eröffnet immer neue grausige Ausblicke. Falcon strampelt seinen Stress auf dem Heimtrainer weg oder geht nachts joggen. Ich will nicht auf den Krimiplot selbst eingehen; am Ende jedenfalls befindet sich Falcon selbst, wie das erste Opfer, in der Situation, dem - für ihn - Schlimmsten auf der Welt ins Auge sehen zu müssen.
Was ich erzählen will, ist das Ende, denn es ist einfach wunderschön:
Falcon lebt allein - sein Vater, ein Modemaler, hat ihm ein Riesenhaus in Sevilla hinterlassen. Für seine, also Falcons tägliche Bedürfnisse sorgt eine Haushälterin namens Encarnacion (zu deutsch die Inkarnation oder Fleischwerdung, klingt komisch, ist aber ein gängiger spanischer Frauenname). Falcon weiß von Encarnacion nur, dass sie jenseits der Fünfzig ist, sein Haus in Ordnung hält und ihm eine warmgestellte Mahlzeit hinterlässt; er bekommt sie nie zu Gesicht. Gegen Ende des Romans aber, als er völlig niedergeschmettert vom Ergebnis seiner Ermittlung und der Begegnung mit dem Mörder, durch die die Innenstadt wankt, tritt im aus aus einer Bodega plötzlich eben diese Encarnacion gegenüber. Ach, Senor Falcon, wie schön, dass wir uns hier begegnen, tanzen Sie eine Sevillana mit mir! Er folgt ihr, nicht zur Gegenwehr fähig. Und mit den ersten Takten der Sevillana (meine Tochter tanzt Sevillanas, von daher weiß ich, dass die ersten Takte nicht getanzt werden, sondern stehend voll Vorfreude mitgeklatscht) verwandelt sich diese kleine dicke Frau von weit über fünfzig in eine verführerische, stolze spanische Schönheit, und Falcon tanzt mit ihr die Sevillana. Plötzlich ist alles Hier und Jetzt: Endlich ist Falcon nicht mehr zu ernst für Sevilla.
Allein um dieses Ende lohnt sich das ganze Buch.
(Aber Vorsicht: Es ist grausig.)

Blubbern als Kunst!

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(Meridian 2/2012)

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