Orpheus

- - können sie die augen öffnen? --
Er will nicht. Hinter den Augenlidern wird es strahlend hell. Das Letzte, woran er sich erinnern kann, ist das Chromgerippe, das auf ihn zuschnellte. Darunter das Nummernschild. Fremde Buchstaben. Das Muster der Dreckspritzer. Jeder Rostfleck, jeder Kratzer ist in die Netzhaut eingeätzt: Ein LKW, der ihn wie einen Tischtennisball von der Straße geschnippt hat.

- - hören sie mich? können sie die augen öffnen? --
Dann fällt ihm wieder ein: Er hob sich empor, so leicht wie eine Luftblase, die Welt geriet ins Trudeln, das Airbag platzte ihm entgegen und erschlaffte wieder, als zu liegen kam, sanft wie ein Schmetterling. Die Explosion von zerschmettertem Blech, die Erschütterung kamen erst einen Moment später: als habe ihn jemand mit einem gigantischen Hieb in den Rücken bis hinunter in die Kniekehlen zu Boden geschickt. Kein Schmerz. Nur ein Schlag, der ihm allen Atem genommen hat. Die Luft ist so vollständig aus seinem Körper herausgepresst, dass er nicht einmal genug Kraft zusammenbekommt, neu einzuatmen. Es scheint im Moment auch unnötig zu sein.
"Jetzt mache ich die Augen auf", denkt er und lässt sie geschlossen. Das geht drei-, viermal so im Kreis, bis er tatsächlich einen kleinen Sehschlitz öffnen kann und vor sich eine schwarze, konvex gebogene Fläche sieht: die Kunststoffverkleidung des Armaturenbretts, die sich vor sein Gesicht geschoben hat, nur wenige Fingerbreit entfernt. Das Lenkrad, das darunter sein sollte, ist außerhalb seines Sichtfelds gerutscht. Vermutlich ist es dort, wo eigentlich er selbst sein sollte oder noch ist. Etwas angenehm Warmes rinnt seine Nase entlang und tropft, nicht abwärts, sondern nach oben über die Stirn. Die Naturgesetze scheinen auf den Kopf gestellt. Er schließt die Augen, um darüber nachzudenken.
Etwas Weiches und Leichtes streift seine Wange, und als er seinen Sehschlitz wieder aufmacht, um die Welt hereinzulassen, hat er ein Notenblatt vor sich. So nahe, als wollte es fragen, wie es ihm denn ginge? Die Punkte und Striche auf dem Papier verschwimmen, dann löst sich eine dicke Träne aus jedem Auge und tropft aufwärts. Er selbst muss es sein, der kopfsteht, die Knie über sich (sofern er noch welche hat). Die Notenblätter haben den Rücksitz verlassen, auf dem er sie abgelegt hatte, und sich nach vorne begeben, um sich auf der Windschutzscheibe zu verteilen.
Er wollte singen, erinnert er sich plötzlich; irgendwo hinfahren und singen. Was es war, weiß er nicht mehr, wahrscheinlich irgendein Chorwerk, ein Oratorium – es muss etwas Langes und Gewichtiges gewesen sein, sonst wären der Notenblätter nicht so viele. Sie bedecken alles: die Frontscheibe, die mit verklebten Scherben im Wind flattert, die Scheibe zu seiner Linken wie mit schwarzer Teerfarbe bestrichen, die zur Rechten vernebelt; das Armaturenbrett, das sich nach oben beult wie schwere See.


Er ist des Todes, das weiß er, auch ohne seinen Körper zu sehen, durch den wahrscheinlich das Lenkrad hindurchgewandert ist. Aber er war unterwegs, um zu singen, und das ist es, was er zu Ende bringen will. Jetzt gelingt es ihm einzuatmen (er muss die ganze Zeit, während er nachdachte, ohne Luft ausgekommen sein), er atmet ganz ohne Schmerz nach hinten in die Flanken, wie man es ihm beigebracht hat, er spannt den Bauch an und stützt seine Stimme aufs Zwerchfell, ohne daran zu denken, dass er wahrscheinlich weder eine Stimme mehr hat noch Bauch oder Zwerchfell, auf das er stützen könnte; und er bringt ein Summen hervor, einen tiefen Ton, so tief, wie er es noch nie vorher geschafft hat. Er lässt den Ton ganz langsam los, am weichen Gaumen vorbeigleiten und von den dünnen Knochen in Nase und Wangen abprallen, bis die beifälligen Notenblätter, die Glasscheiben und alles, was von seinem Auto noch übrig ist, mitschwingen in einem langen Bogen. Für einen Augenblick sieht er ihn hinter dem Seitenfenster stehen und sich herabbeugen, den Fährmann mit seinem Ruder. Dann erstirbt ihm der Atem.


- - hören sie mich? können sie mich hören? bitte versuchen sie, die augen zu öffnen. Er fliegt zurück und prallt gegen das Armaturenbrett. Über ihm eine OP-Lampe, grüne Haube, Mundschutz, aufmerksame Augen, Hände. Er atmet ein. Zwischen ihm und dem Fährmann steht nur ein Lied.

Blubbern als Kunst!

brille

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"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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