Gesprächskultur

Mein früherer Schreibgruppenleiter hat mir mal (bei einer Sprechprobe für eine Lesung) gesagt, in Südeuropa aufgewachsene Leute hätten beim Singen und Sprechen einen automatischen Vorteil. Weil die Menschen dort viel mehr Zeit im Freien zubringen, könnten sie lauter. Italien ist ja nicht umsonst das Heimatland der guten Tenöre. Auch Südfranzosen unterhalten sich gern temperamentvoll und schreiend. Spanier hingegen überhaupt nicht. Es wird zwar viel geredet in Spanien. An Bushaltestellen und Straßenecken fangen die Leute sofort ein Gespräch an. Aber, das ist der Punkt, Spanier reden weder laut noch gleichzeitig. Typisches Bild ist, dass mehrere zusammenstehen, also mindestens zwei, und einer redet. Die anderen hören zu. Der Redende spricht so leise und gleichmäßig, als halte er eine Vorlesung. Die klassische Geste dazu ist ein leichtes Wippen einer geöffneten Hand mit aneinandergelegtem Zeigefinger und Daumen. Der Tonfall ist fortfließend ohne Pausen und ohne auffallende Betonung. Dem Zuhörenden sind Einwürfe wie "ah", "ahem", "hmpf" und "si" erlaubt, solange sie den Redefluß nicht stören. Kurz gesagt, Spanier sind große Monologisierer.
Da ich selbst kein Spanisch verstehe, habe ich mich oft gefragt, worüber man so lange und unaufgeregt reden kann. Ich könnte zum Beispiel zehn Minuten lang von meinem Schwager erzählen, meine Haustür beschreiben oder erklären, wie eine Strickmaschine funktioniert. Aber das will doch keiner wissen. Worüber reden Spanier? Eine Zeitlang nahm ich an, sie erzählen einander Geschichten. Spanier schätzen Geschichten sehr, sonst würden nicht so viele mit aufgeschlagenem Buch in der Metro stehen. Wenn sie nicht gerade reden, lesen sie. Sogar beim Aussteigen, Erklimmen der Rolltreppen und bei den letzten Metern Gehweg zum Arbeitsplatz lesen sie weiter. Wenn so ein Spanier mit einem anderen zusammensteht und monologisiert, erzählt er vielleicht, was er zuletzt gelesen hat, dachte ich.

Bis ich unseren Hotelrezeptionisten in Madrid gefragt habe, wie lange ich mit meiner Metro-Dauerkarte noch fahren kann. Genauer gesagt, meine Tochter fragte und ich stand dabei. Es war eine Wochenkarte, Samstag gegen vier Uhr nachmittags gelöst, und unsere Frage (die wir Freitagabend stellten) war die, ob diese Karte am Folgetag, also Samstag, noch benutzt werden könne.
Der Rezeptionist, ein freundlicher junger Mann, nahm die Karte in die Hand, betrachtete sie von allen Seiten und fing an zu reden. Er redete sehr lange. Sehr, sehr lange, in verbindlichem Ton und mit einer Miene, die zu besagen schien, dass er sich intensiv mit unserer Frage auseinandersetzte. Ich verstand kein Wort. Aber ich konnte sehen, dass er mehrmals etwas an seinen Fingern abzählte.
Hinterher fragte ich meine Tochter: "Was hat er gesagt, gilt die Karte noch?"
"Er weiß es nicht", sagte sie.
Darüber musste ich erst mal nachdenken. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben.
"Wenn er es nicht weiß, was hat er dann die ganze Zeit geredet?"
"Er hat die Karte in die Hand genommen. Ja, das sei eine Wochenkarte. Und die sei gelöst am Samstag, sechzehn Uhr dreizehn. Da in der Ecke steht es, Samstag sechzehn Uhr dreizehn. Die Karte gilt eine Woche. Also bis zum Samstag drauf sechzehn Uhr dreizehn. Heute ist Freitag, jetzt ist es gerade neunzehn Uhr dreißig. Also gilt die Karte heute noch, weil sie Samstag, sechzehn Uhr dreizehn abläuft. Die Karte ist eine Wochenkarte, das heißt, sie gilt sieben Tage. Gelöst am letzten Samstag. Heute haben wir Freitag. Das sind seit letzten Samstag (zählt an den Fingern ab) Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag, also sechs Tage, und morgen gilt die Karte bis sechzehn Uhr dreizehn, das sind dann genau sieben Tage. Nach sechzehn Uhr dreizehn dann wohl nicht mehr, weil das mehr als sieben Tage wären. Samstag sechzehn Uhr dreizehn, dann (zählt an den Fingern ab) Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag und der halbe Samstag bis sechzehn Uhr dreizehn, das sind genau sieben Tage. Er ist nicht sicher. Aber er meint, normal dürfe die Karte nur noch bis morgen sechzehn Uhr dreizehn gelten. Du kannst also noch bis sechzehn Uhr zwölf damit Metro fahren. Das sind dann genau sieben Tage (zählt zum dritten Mal an den Fingern ab). Also morgen nach sechzehn Uhr dreizehn kannst du mit der Karte nicht mehr fahren. Aber sicher ist er nicht. Du kannst es ja einfach ausprobieren. Da sind doch die Durchgänge in den Metrostationen, die automatisch geöffnet werden, wenn man die Karte in den Schlitz steckt, da steckst du die Karte rein und wenn der Durchgang dann aufgeht, dann gilt die Karte noch. Wenn nicht, musst du eine neue kaufen oder zu Fuß gehen. Das hat er mir erklärt. Dann hat er mir Gott sei Dank die Karte endlich wiedergegeben."

Ich glaube, ich habe meiner Tochter daraufhin gesagt: "Ich will den als Schwiegersohn." Aber sicher bin ich nicht.

Am Tag darauf waren wir in Segovia und sahen uns eine Osterprozession an. Diese Prozessionen sind unheimlich, wegen der Vermummung, die viele der Teilnehmer tragen, dem merkwürdigen Wiegeschritt und der schrägen Musik, die manchmal dazu gespielt wird. Wenn keine Musik gespielt wird, schweigt die Prozession. Das ist wirklich unheimlich, diese Stille mittem in Spanien. Ich wurde von der Menschenmenge am Straßenrand verkeilt und konnte mich keinen Zentimeter mehr wegbewegen. Die Büßertruppe, in mitternachtslila Samt gekleidet und mit riesigen Spitzhüten auf den Köpfen, wankte an mir vorbei und kam zum Stehen, wohl wegen eines Hindernisses weiter vorne. Gerade vor mir zog sich einer der Vermummten die Kappe vom Kopf. Er sah ganz ähnlich aus wie unser Hotelrezeptionist, vielleicht Mitte zwanzig, nett und lustig mit spitz aus der Stirn gezogenem Haar und einem Silberring in der Augenbraue. Ein kleiner Teufel. "Qué calor", bemerkte er und lachte.

Ich habe noch gewartet (konnte sowieso nicht weg), aber mehr sagte er nicht. Ob ich doch lieber den als Schwiegersohn ...?

Blubbern als Kunst!

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"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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