fischgrund

Lebende Steine

Sie sagt: Wir alle sehen Tiere an, und die Tiere schauen zurück. (Stimmt – ich sehe gern Hundegesichter; sie sind Menschengesichtern so ähnlich, nur wacher und aufmerksamer.) Und wir sehen Pflanzen an. Schauen die auch zurück?
Das kann sein, werfe ich ein. Stiefmütterchen habe ich schon zurückschauen sehen – so! Mit verkniffener Miene, als hätte sich das ganze Gesicht um einen Mittelpunkt herum eingekraust.
Ja, sagt sie. Aber schau mal, mein Farn! Und deutet auf die Ampel, die in der Zimmerecke hängt. So! Sie macht eine große Bewegung mit dem Arm. Schau, dieser Bogen, den er macht. Er verneigt sich. Wenn er einen Hut hätte, würde er ihn abnehmen und schwenken (sie macht es vor, in einer schwungvollen Parodie auf d’Artagnan). Er sieht uns an!
Es fällt mir schwer, darauf eine Antwort zu finden; die unverstellte Begeisterung in ihrem Gesicht lässt mich schrumpfen. Vorhin hat sie mir ihre Kamelie gezeigt, die jetzt, Anfang März, prachtvolle rote Blüten trägt.
Ich schaue in die Teetasse, in deren weitem Bauch ein kleiner, tröstlich grüner See schwappt. Sehe mich selbst plötzlich winzig klein in dem See, um Hilfe zirpend, die Ärmchen verzweifelt ausgestreckt nach dem viel zu hohen Tassenrand. Mir fällt eine Pflanze ein, die wie trockenes Stroh aussieht, sich aber nach einem Wasserguss zu grüner Pracht entfaltet und wie wiederbelebt aussieht. Auferstehungspflanze nennt man sie, obwohl sie tot ist; sie wirkt nur lebendig, weil ihre trockenen Röhren das Wasser ansaugen und sich grün färben.
Einen Augenblick lang habe ich nicht mehr zugehört. Sie redet immer noch. Und lebende Steine!, sagt sie und macht wieder ihre große Musketier-Bewegung mit dem Arm. Kennst du lebende Steine?
Ja, sage ich, die kenne ich.

Flaschen und Nahtod

Wie schön das von denjenigen beschrieben wird, die schon im Übergang begriffen waren und wieder zurückkamen: Ein Tunnel, von strahlendem Licht erfüllt, und am Rande des Weges warten unsere Freunde und Verwandten, die uns vorausgegangen sind, um uns in Empfang zu nehmen und sicher hinüberzugeleiten, wo alles Licht und Friede ist. Ja. Was aber passiert mit denen, die nicht dorthin gehen, wo Licht und Friede ist? In „Das Herz der Hölle“ beschreibt Grangé, wie der Polizist Luc, wohlversehen mit satanistischen Insignien, sich in den Selbstmord stürzt, um einen Blick auf die andere Seite zu werfen, die ganz andere. (Warum will er das bloß wissen?) Er beschreibt später seine Eindrücke: Das Licht, das er sieht, ist nicht hell, sondern rot; die Tunnelwände bestehen aus schreienden Gesichtern, und am Ende des Tunnels erwartet ihn das Gesicht eines alten Albinos, umgeben von phosphoreszierenden Haaren. Ja, klingt nicht übel. Komisch eigentlich, dass außer Grangé da noch niemand drauf gekommen ist.

Ich habe mir heute im Supermarkt, vor dem Automaten, der die Pfandflaschen zurücknimmt, ein ganz anderes Bild gemacht. Zunächst einmal nimmt der Automat die Flaschen nicht gern so, wie sie sind. Nicht, wenn sie zerbeult und platt gedrückt sind, dann gibt er sie mit der Bemerkung „gehört nicht zum Sortiment“ zurück. Man muss die Flaschen wie Luftballons aufblasen und alle Unebenheiten herausdrücken, um sie für den Automaten passend zu machen, und man muss sie richtig herum hineinschieben, nicht kopfvoran wie wir etwa zum MRT in die dröhnende Röhre wandern, sondern ärschlings, mit dem Kopf zuletzt. In der hellen Röhre werden die Flaschen gedreht und von allen Seiten beleuchtet, während ein magisches Auge darüber tickt und prüft, ob auch wirklich alles passt. Wer nicht passt, wird unbarmherzig wieder hinausgeschoben, zum direkten Weg in den Restmüll verdonnert. Wer halbwegs passt, wandert zentimeterweise weiter die Röhre entlang, während ihm am anderen Ende ein Licht aufmunternd entgegenstrahlt. Dieses Licht ist aber nur für Superflaschen da die glasharten, klirrenden, singenden. Die ganz normalen blubbrigen Weichplasteflaschen werden, just wenn es am schönsten ist, von einer Klappe, die von oben herabfällt, unbarmherzig seitwärts aus dem Weg gehauen und wandern … ja, wohin wohl? Da, wo laut Grangé die Tunnelwände aus Gesichern bestehen und ein albinohafter Greis mit elektrischen Haaren lauert? Wohl eher nicht, da steht wahrscheinlich auch wieder so eine Tonne, wie überall. Genau erfahren werden wir es erst, wenn wir selbst so eine Flasche sind. Zurechtgebeult und garantiert zum Sortiment gehörig, richtig herum einsortiert, von allen Seiten beleuchtet, gemustert und geprüft und kurz vor dem Ziel mit einem lockeren Schlag seitwärts aus der Bahn gehauen. Klack, macht es. Wohin des Wegs? Wer nimmt uns auf?

Wortgesang

Er hat "Ulysses" in vierundzwanzig Stunden gelesen, behauptet er. Wovon es handelt, hat er nicht mitbekommen. Er war mit Lesen beschäftigt. Sich in der kurzen Zeit noch mit dem Wortsinn auseinanderzusetzen, überstieg seine Fähigkeiten. Aber die. Worte. Jedes Wort. Gelesen. Jedes.

Zentauren, Komposita, singen am lautesten. Hochzeitsdatum: schwingt sich in die Lüfte, weit mehr als "Hochzeit" allein. Kindertage sind lang und fallend, noch länger und fallender ist die Wendung "Seit Kindertagen". Politikverdrossenheit ist etwas, was man auf Fingerspitzen trägt, um es schließlich in den Dreck zu werfen. Erzählung schwingt sich weit nach außen, lässt aber den Endpunkt ahnen. Nacherzählung ist hingegen eine langweilige Angelegenheit, quasi durchs Fenster beobachtet. Noch langweiliger ist das Wort Angelegenheit. Das macht sich breit und quer, ohne eine Spur von Tiefe, es liegt einfach nur im Weg.

Fremdwörter haben keine Farbe, behauptet Bettina und gibt als Beispiel das Wort "stringent" an. Ich finde schon, dass stringent eine Farbe hat. Es ist ein zitronengelber Federstrich, mit so eng geschraubter Feder, dass die Tinte spritzt. Operette, das sind zwanzig Tischtennisbälle in einem Beutel, die leicht gegeneinander rappeln. Oper ist ein einziger Medizinball. Synästhetik: klingt irgendwie unanständig, ebenso wie Ästhetik oder Ästhet. Ich dachte früher, ein Ästhet sei so eine Art Sittenstrolch.

Prinz: ein Punkt oder vielmehr ein winziger Kringel. Campari: eine gerade Linie, mit einem Planscher in der Mitte, als ob man in eine Pfütze tritt. Dimension: hat einen schönen Schwung nach oben ins Ungewisse. Das Wort Rührkeule, das ich kürzlich kennen gelernt habe (es war der Titel einer Kurzgeschichte), ist klanglich ein Widerspruch in sich; es klingt wie ein Stampfer, der auf Zehenspitzen daher kommt. Dirigent ist leicht und luftig; man muss ihm nicht gehorchen, aber man macht es gern. Dirigat klingt schon erheblich strenger, da lauert die Peitsche im Hintergrund. Taten, egal ob gute oder schlechte Taten, sind immer etwas in die Luft Geworfenes, das noch keine Erdung gefunden hat. Taten - ein Schlag ans Hoftor und auf das Echo warten. Verona ist weich und sanft, Piemont in die Landschaft gestochen, Venedig und Neapel schweifen aufs Meer hinaus. Stockholm war auf dem Meer und kam wieder zurück. Helsinki ist nicht zu trauen. Der schönste Städtename ist St. Petersburg: Das schwebt so kompakt in der Luft wie das Eiland Laputa. (Apropos: Eiland ist ein geniales Wort; es ist klein und schwimmend und trotzdem etwas Festes im Dunst.) Leningrad klingt demgegenüber viel sachlicher, aber dieses "-grad" impliziert ein in die Luft geworfenes Lasso. (Das gilt auch für Stalingrad, unseligen Angedenkens.) Prag ist eine Münze im Schnee, Wien ein Sahnetuff, Barcelona eine Perlenkette, Toledo ein stolzer Obsidian. Kartoffel ist eine Spirale, Apfel der Schöpfungsmorgen, Wirsing eine Milchglasscheibe in den Herbst.

Und wovon handelt das Buch? Hab ich nicht mitbekommen. Aber "Buch" hat Tiefe. Ein schmaler Alkoven mit einem Guckloch ins Dunkle, wie ein Fernglas, das man umgekehrt ans Auge hält.

... so leicht und sicher war mein gang ...

ich trinke sprache
mein kinn und mund gleicht dem rand
des buches
doch meine verse

rutschen aus dem papier
geplatzter tüte
am boden kullern
worte umher

Rein. Raus.

Ein bekannter Schauspieler. Behaupten meine Gesprächspartner im Speisesaal, zitieren die Fernsehzeitung, geben Sendezeiten an, nennen ihn „den anderen Dicken, neben dem, den Sie kennen, dem berühmten, Sie wissen ja“. Vorabendprogramm. Gucke ich nie. Den berühmten Dicken kenne ich, den anderen Dicken nicht. Auch nicht, als er mir endlich gezeigt wird, nachmittags auf der Sonnenterrasse. Er sitzt im Rollstuhl und trinkt Bier. Vor sich die Zeitung, die Zigarettenschachtel.
Er will nicht angesprochen werden, teilt man mir mit. Dann wird er grantig. Vorsicht. Keine Autogrammwünsche.
Das glaube ich gern. Er sieht explosiv aus mit dem feuerroten Kopf, dem Doppelkinn, den finster gerunzelten Augenbrauen. Er trägt Spezialschuhe, die nicht zum Laufen taugen, was auch sinnlos wäre, da er ohnehin nicht laufen kann. Die Schuhe sind oben und unten dick gepolstert. Er raucht ununterbrochen. Liest die Zeitung. Verharrt eine Viertelstunde lang mit in den Kopf gestützter Hand. Bejaht dem Kellner, der das leere Glas wegräumt und „noch eins?“ fragt. Ein neues Glas wird hingestellt. Neue Zigarette. Einen Käsekuchen.
Abends im Speisesaal belehrt man mich, dass er sicher schwere Sorgen habe, er habe schlimme Diabetes, nicht wahr, und die Ärzte wollten ihm einen Fuß „abnehmen“. Abnehmen. Komisches Wort. Die meisten hier wollen abnehmen. Das ist das Grundübel. Man nimmt den Leuten das Gepäck ab, den Therapieplan bei Betreten des Schwimmbads, das Handy, die Anamnese (was mich immer an Amnesie erinnert) und mit zweifelndem Zungenschnalzen die Behauptung, dass man gar nicht recht wisse, wieso man überhaupt hier sei, da Blutdruck Zucker Gewicht Alkohol Nikotin doch alles im Rahmen sei.
Der bekannte Schauspieler, denke ich ein wenig patzig, sollte sich nicht so anstellen. Dem Aussehen nach ist er mindestens Mitte sechzig. Trinkt Bier und raucht Kette. Warum auch nicht. Er kann sich ja zur Ruhe setzen.
Am nächsten Tag sehe ich den bekannten Schauspieler das erste Mal lachen. Es geschieht im Fitnessraum. Er fährt mit dem Rollstuhl ein Gerät, dessen Zweck ich aus meiner Position (auf dem Trainingsfahrrad sitzend) nicht genau erkennen kann, aber er steckt seine Chipkarte ein, zieht probeweise an den Haltegriffen, setzt sich in Positur, bringt die Zeitung in Anschlag, liest einen langen kleingedruckten Artikel (sicher Feuilleton), zieht dabei rhythmisch an den Griffen, dass die Adern an seinen dicken Armen hervortreten, bläst die Backen auf und lacht über etwas, was in der Zeitung steht.
Da haben die Ärzte wohl Entwarnung gegeben, sagt man mir im Speisesaal. Der Fuß darf dranbleiben. Nachmittags sitzt er auf der Sonnenterrasse, Bier und Zigaretten neben sich, blinzelt in die Linde hinauf, grüßt den Kellner: Noch eines bitte.
Neugierig geworden, suche ich ihn nach meiner Heimkehr bei Google und stelle fest, dass er fünf Jahre jünger ist als ich, noch nicht mal fünfzig. Bisschen früh für Ruhestand.
Im Kloster Benediktbeuern habe ich mir eine Postkarte gekauft. Sie zeigt einen Hasen mit aufgerichteten Ohren und Aufschrift. Linkes Ohr: Da rein. Rechtes Ohr: Da raus.
Ich nehme mir die Zeitung vor, suche nach dem Vorabendprogramm. Auf den Googlefotos lacht er. Immer.

Wenn ich ...

Wenn ich ein Roman wäre, kämen so viele verschiedene Leute mit schwer zu merkenden Namen in mir vor, dass niemand mich zu Ende läse. Selbst Leser, die eine Personenliste führen, kämen nicht mit mir zu Rand, weil meine Hauptfigur im ersten Drittel etwa Peinlich hieße, im zweiten Weinrich und im letzten Heimlich. Dafür wäre ich aber sehr dick, so dass mein Besitzer ein Loch in mich schneiden und seinen Likörvorrat darin verstecken könnte. Dann wäre ich trotzdem zu etwas nütze.

Wenn ich ein Geigenkasten wäre, enthielte ich keine Geige. Ich würde mein Leben lang darauf warten, dass jemand kommt und eine in mich hineinlegt. Es wäre vergebens. Vielleicht würde eines Tages ein Geigenbogen in mich gelegt, der aus Hochmut kein Wort mit mir spricht.

Wenn ich eine Brille wäre, würde ich nur abends getragen, in der letzten halben Stunde, bevor meine Besitzerin schlafen geht. Ich hätte nichts anderes anzugucken als den Computerbildschirm und die Weinflasche. Tagsüber, wenn meine Besitzerin spannende Krimis liest oder den Himmel betrachtet, wäre ich ins Etui verbannt. Ich wäre eine sehr frustrierte Brille und würde mir wünschen, dass meine Besitzerin eine Kontaktlinse verliert.

Wenn ich ein Gartenzaun wäre, würde ich das Atelier eines Bildhauers einzäunen, der monumentale Gipsmänner und –frauen fertigt. Ein Bildhauer, der alles, was ihm misslingt, durch das Fenster in den Garten wirft. Nackte Riesenfüße, Fäuste, Köpfe, gipserne Brüste. Einmal pro Woche käme der Inhaber des nächstgelegenen Gartencenters vorbei, würde über mich hinweglangen und all die gipsernen Körperteile auflesen, um sie in seinem Laden als Gartendeko zu verkaufen. Deshalb wäre ich ein sehr isolierter und in mich gekehrter Gartenzaun.

Wenn ich eine Mütze wäre, dann eine dickfellige Tschapka mit Ohrenklappen, die so warm ist, dass sie höchstens drei oder vier Tage im Jahr überhaupt getragen werden kann. Aber ich wäre eine schöne Mütze, und mein Besitzer würde sich über jeden polarkalten Tag freuen, um mich aufzusetzen. Vielleicht würde er januars in den Frostnächten am offenen Fenster sitzen, in eine Sofadecke gehüllt und mit mir auf dem Kopf. In jenen Morgenstunden, in denen der Frost hauchfein zu Boden rieselt und alles Gewachsene im Eis verstummt, würde er am Fenster sitzen, meine Klappen über seine blau gefrorenen Ohren ziehen und mir Kirschen erzählen bis in den Kern.

Die Füchsin

Sie steht in ihrem Ankleidezimmer, eine große, schöne Frau um die Fünfzig, die zu einem Fest eingeladen ist. Sie trifft ihre Vorbereitungen. Die Haare hat sie im Nacken zusammengesteckt, ein Band aus weißen Perlen umschließt den Haarknoten. Sorgfältig zieht sie die Träger ihres Abendkleides auf den Schultern zurecht. Sie setzt sich an den Schminktisch und malt ihr Gesicht; sie legt Lippenstift auf, pudert die Wangen rötlich und die Augenlider silbern. Mit sanfter Hand streichelt sie die Falten auf ihrer Stirn weg und lächelt ihrem Spiegelbild zu.
Dann nimmt sie von der Stuhllehne den Fuchs. Eigentlich ist es eine Füchsin, aber das weiß die Frau nicht. Leise summend legt sie sich den Pelz um die Schultern und besieht sich im Spiegel. Stolz dreht sie den Kopf hin und her.
Die Frau schreitet durch den festlichen Abend, in die Füchsin gehüllt. Sie redet und lacht, trinkt Champagner und fühlt bewundernde Blicke auf sich ruhen. Die Füchsin liegt still und duldsam auf den nackten Schultern.
Lange nach Mitternacht kehrt die Frau heim. Summend geht sie durch ihr stilles Haus und öffnet die Hintertür. Der Wald unweit des Hauses atmet ihr Kälte entgegen. Die Frau nimmt die Füchsin von ihren Schultern und entlässt sie in die Freiheit.
Im Morgengrauen schleicht die Füchsin über taufeuchte Wiesen heimwärts, steif und matt. Sie trägt das Gesicht der Frau, sorgfältig über ihr eigenes gezogen. Durch die leeren Augenhöhlen der Frau sucht sie ihren Weg in den Wald.
Viel später rollt die Sonne endlich über den Himmel und saugt die letzten Frühnebel aus den Wiesen. Die Luft ist klar. Im Wipfel eines Baums hängt das leere Gesicht der Frau, sich selbst überlassen. Unter der Erde schläft die Füchsin, tief verkrochen in ihrem Fell.

Sardine

Wir haben zuerst „Tat oder Wahrheit“ gespielt, dann das Werwolfspiel und gegen Mitternacht das Sardinenspiel. Ich habe mich als erste versteckt, in dem Besenschrank unter der Kellertreppe. Es dauerte keine fünf Minuten, bis der Schrank geöffnet wurde. Draußen war es dunkel. Er hatte kein Licht gemacht. Er kroch neben mich und zog die Tür von innen zu; ich sah nichts, aber ich erkannte ihn am Geruch. Es war der Fotograf. Der mit den schwarzen Haaren. Er saß so dicht neben mir, dass mich seine Locken an den Schläfen kitzelten. Die Zeit verging. Er erzählte. Ich hörte Stimmen von der Kellertreppe her, Rufen, das sich entfernte. Er erzählte mir von einer arabischen Prinzessin, die auf einer Jacht nach Monaco gekommen war, um an einer Spendengala teilzunehmen. „Eine der teuersten Jachten der Welt!“, flüsterte er. „Sie war so groß, dass sie nicht in den Hafen hineinpasste, sondern draußen am Wellenbrecher ankern musste, und sie war schlank und schön wie ein riesiger Delfin, einhundert Meter lang und fünf Stockwerke hoch ... Die Prinzessin flog jeden Morgen mit dem Helikopter vom Schiff aus an Land. Die Ladenbesitzer in Monaco ließen extra ihre Schaufenster frisch putzen, dass sie funkelten wie Kristalle, alles für die Prinzessin … Man hoffte, sie würde Unmengen Geld ausgeben. Es gab einen Sandstrand an Bord der Jacht, stell dir vor, ein Strandbad mit aufgeschütteter Düne, sie hatte die Küste auf ihr Schiff gebracht. Dort lag sie auf einem Handtuch und hielt die Füße ins Wasser … Und sie hatte ein Salzwasseraquarium mit Korallenriff einbauen lassen, das groß genug zum Tauchen war.“ Er zog die Tür fester zu, als ein Lichtstrahl von draußen die Ritzen aufleuchten ließ: ein helles Viereck. Wir hielten den Atem an, bis das Licht wieder gelöscht wurde. „Sie schnorchelte darin, verstehst du, in diesem Aquarium, sie tauchte unter Wasser und besah sich die blauen und gelben Fische, die Seeanemonen, die Korallenzweige, es war alles nur für sie gebaut worden … Bei der Wohltätigkeitsgala gewann sie den ersten Preis in der Tombola. Es war eine Reise um die Welt. Mit Linienflugzeugen. Voll Freude bedankte sie sich … sie könne es gar nicht erwarten, sie sei noch nie mit einem Linienflugzeug geflogen … Ihre Jacht hatte einen eigenem Sandstrand und eigenes Korallenriff und einen Esstisch, fünfundzwanzig Meter lang und mit Gold und Smaragden intarsiert.“ Ich griff nach seiner Hand und befühlte die glatten Ringe – einer am kleinen Finger, einer am Daumen – und die kurzen, stumpfen Fingernägel. Es war stickig in der Besenkammer. „Ich bin korallenresistent“, flüsterte ich, „ich trage nur Stahl.“

...

Der erste Herbststurm. Das Jaulen des Windes im Fallrohr (zwei Meter entfernt zu meiner Linken) erinnert mich jedes Jahr daran, dass ich einmal Hasen hatte. Die leere Stelle in der Ellbogenbeuge habe ich vergessen, aber wenn der Wind im Fallrohr sein Herbstlied wieder beginnt, fällt mein Blick darauf. Die Leere, wo etwas nicht ist.

Es ist nicht so, dass da ein Nichts wäre. Das Nichts ist in mich eingewachsen und ein Etwas. Nach der Zeit.

Nüsse

In den meisten Erdnussschalen sind zwei Nüsse hintereinander, jeweils in eine braune Haut gehüllt. Streift man die Haut ab, fallen die Nüsse so blank wie frisch poliert heraus, jede in zwei Hälften, die Bauch an Bauch zusammen in der Haut gelegen haben.

In manchen Schalen ist nur eine Nuss, Bauch an Bauch in die Haut gehüllt. Das sind die Einzelzimmer unter den Erdnüssen. In den ganz unanständigen Junbonüssen sind hingegen drei Pärchen hintereinander. Die Jumbonüsse gibt es gesondert in etwas teureren Tüten; ich weiß nicht, ob sie genmanipuliert sind; auf jeden Fall finde ich die Dreier-Nuss irgendwie unanständig. Sittenlos. Manchmal denke ich darüber nach, die Wuchssituation der Nüsse als Sinnbild für irgendwas herzunehmen, aber wofür? Wenn mir beim Abstreifen der Haut die Pärchen wie aufgeschreckt auseinanderspringen und sich in die hintersten Zimmerecken verkrümeln, so weit auseinander wie möglich, was könnte das bedeuten?

Wegen meines deprimierenden Zahnstatus kann ich nur wenige Nüsse essen, egal, ob sie zu zweit oder zu dritt liegen. Vielleicht ist wenigstens das ein brauchbares Sinnbild für irgendwas.

Die leeren Schalen kippe ich in den Kamin. Lauter verlassene kleine Betten.

Blubbern als Kunst!

brille

Wort des Monats

"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

Aktuelle Beiträge

Geschlossen.
Dieser Blog ist geschlossen. Bilder wurden entfernt,...
schmollfisch - 1. Apr, 23:42
Gesprächskultur
Mein früherer Schreibgruppenleiter hat mir mal (bei...
schmollfisch - 3. Mär, 10:27
Horrortrip in Düsseldorf
Ein alter Schreibfreund noch aus Lupenzeiten hat mir...
schmollfisch - 3. Nov, 08:46
Der Zauberstab
(Aus urheberrechtlichen Gründen alle Bilder sicherheitshalber...
schmollfisch - 7. Sep, 11:08
Extreme Bedingungen
In dem Klassikforum, in dem der Schmollfisch hin und...
schmollfisch - 5. Feb, 11:13

Suche

 

Archiv

April 2024
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
 
 
 
 
 
 
 
 

Status

Online seit 6312 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 1. Apr, 23:42

Credits

Knallgrau New Media Solutions - Web Agentur f�r neue Medien

powered by Antville powered by Helma


xml version of this page
xml version of this topic

twoday.net AGB

kostenloser Counter


fischgrund
oberwasser
on tour
quilting bee
Rhöner Literaturwerkstatt
schmollfisch lauscht
schmollfisch liest
subtitles
Tagesblupp
Vitrine für gewagte Thesen
Wider den Methodenzwang (mit Ewald)
Wo der Hase hinlief
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren