fischgrund

Und: ... schlank ...

Gesichtsverlust. Ein großes Wort, hat wohl in gewissen Branchen viel zu bedeuten; dort wo es zählt, was für ein Gesicht man hat und wie unbeschädigt es ist. Ich habe nie viel darauf gegeben; wenn es um bestimmte schwerwiegende Entscheidungen ging, war mein Gesicht immer das Wenigste, was zu bewahren war. Der Klügere gibt nach. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Das mit den Augen und dem Sinn hat genau so lange funktioniert, bis es um mein eigenes Gesicht ging. Seit ich das nämlich aus den Augen habe, ist es mir wichtiger als je zuvor. Damit wir uns richtig verstehen: Oberhalb meines Halsausschnittes ist nichts mehr, jedenfalls sehe ich nichts im Spiegel. Da ist kein schwarzes Loch oder ein verschwommener Fleck oder sonst etwas, was mit Aneurysma oder Sehstörungen zu erklären wäre, sondern mein Spiegelbild endet einfach mit dem oberen Ende des Halses. Kompletter Gesichtsverlust. Nicht nur das, ich habe den ganzen Kopf verloren. Ich kann mich nicht mal anständig kämmen, weil der Spiegel mir keine Rückmeldung gibt; wenn es nach ihm geht, bin ich einfach kopflos.

Aber das tut so gut. Niemand ahnt, wie gut das tut, wenn man kein Gesicht mehr hat, auch keinen Kopf zu verlieren, nichts. Man lebt im luftleeren Raum, man fängt in jeder Stunde, ja in jeder Minute des Tages schlankweg von vorne an. Das ist auch so ein schönes Wort: "schlankweg". Es erinnert mich an ein Wort, das hin und wieder in Kochrezepten auftaucht: Man soll etwas "schlankrühren". Meistens handelt es sich um sauer Sahne mit Mineralwasser. Was damit gemeint ist, hat sich mir erst erschlossen, als ich den Gegensatz "dick rühren" bedachte. Schlankrühren. Das heißt, es flutscht ganz locker an den Rührbesen vorbei. Ich sehe es vor mir. Eine schön flexible Pampe, die unter den Rührbesen gefällige Spiralen bildet. Nicht dünn genug, um zu spritzen, und nicht dick genug, dem Mixer Widerstand zu leisten. Oder wie die Iren sagen: zu dick zum Trinken und zu dünn zum Pflügen.

Aber gerade dünn genug, über überall hinzukriechen, wo sich eine Ritze auftut. die ein Sehen verheißt. Das, denke ich, muss der Wunsch sein von allem, was schlank gerührt wird. Eischnee, der über Wasserdampf aufgeschlagen wird, oder Sahne in einem eisgekühlten Gefäß: Irgendwo ist Ende Gelände. Da, wo die Rührbesen schnarrend an die Schüsselwand stoßen. Hier ist Verheißung. Sich immer weiter nach oben aufzublasen, ist das Naheliegenste, aber wo wir wirklich hingehören, ist der Grund; sei es die heiße Herdplatte oder der mit Eiswürfeln gefüllte Pott, über dem die fettige Sahne gerinnen soll und nicht will. Ja.

Gerinnen. Entrinnen. Es ist wichtig, keinen Kopf zu haben, aber es ist nicht alles. Man sollte auch bedenken, wo man ihn wiederzufinden sucht. Am Grund der Schüssel. Genau da, wo es entweder hundert oder null Grad hat: Die Welt ist offen.

Vorspiel

Der Brief rutscht durch den Spalt unter der Wohnungstür, als sie gerade daran vorbeigeht. Ohne einen Laut schiebt sich das weiße Viereck ins Zimmer. Kein Klingeln an der Tür, keine Schritte im Flur, nur das weißt Kuvert auf dem Linoleum. Ohne Adresse darauf.
Die Klappe ist nicht zugeklebt und öffnet sich von selbst, als sie den Brief in die Hand nimmt. Der Umschlag ist leer bis auf ein Foto.
Sie setzt sich auf die Kante des durchgesessenen Sofas. In der Wohnung stehen kaum noch Möbel. Fast alles ist ausgeräumt. Das Bücherregal leer, die Türen des Kleiderschranks stehen offen. Ein einzelner Stuhl wendet dem dreibeinigen Tisch den Rücken zu, als wolle er nichts damit zu tun haben.
Als Kind hat sie Klavier gespielt, manchmal sogar in Schülerkonzerten mitgewirkt. Sie erinnert sich: Einmal ist mitten in ihren konzentrierten Spiel ein Journalist hinter sie getreten und hat sie fotografiert. Der plötzliche Lichtblitz aus der Kamera brachte sie aus dem Takt. Ihre Finger verhedderten sich, stolperten über ihren flinken Lauf auf den Tasten, sie hob die Hände und versuchte die Panik niederzukämpfen, und als sie die Finger wieder auf die Klaviatur legte, hatten sie keine Gelenke mehr und hingen kalt und steif an ihren Armen wie ein totes Gewicht. Mühsam und stolpernd brachte sie ihr Vorspiel zu Ende, es gelang nichts mehr. Seitdem hat sie es immer gehasst, fotografiert zu werden.
Seitdem hat sie kein Foto von sich ansehen können, ohne sich an diese Niederlage zu erinnern.
Sie betrachtet das Foto in ihren Händen. In der Türöffnung steht ein schwarzer Mann mit weißem Hemd.
Das ist aber nett, dass Sie schon fertig sind, sagt er. Die wenigsten sind so entgegenkommend.

In Splitkästen schlafen

Das kleine Schwein hat einen singenden Zahn, der tief im Mund steckt, ganz hinten. Den ganzen Tag gibt er irgendwelche störenden Geräusche von sich. Das heißt, die Geräusche kommen gar nicht aus dem Zahn selbst heraus, sondern werden durch die Zahnwurzeln in den Kopf geleitet. Ohne erst den Umweg über die großen Knickohren zu machen.

Wenn das kleine Schwein ein Mensch wäre, wüsste es, dass es irgendwann auf etwas Metallisches gebissen hat und der Zahn damals das Singen gelernt hat; erst nur zögerlich, mit hin und wieder einem Streichquartett, den neuesten Hochrechnungen und ganz vielen Pauken. Dann hat sich der Zahn gesteigert und vom Reisewetter erzählt. Wie gut die Sangria just eben in Palma de Mallorca munde, wo es dort gewittre wie nicht gescheit, und wie an der Nordküste Sardiniens ein Wal gestrandet sei und vor sich hinstinke. Ja. Eine freundliche Stimme, mit nur schwach hysterischem Unterton, erzählt das. Eben eine Menschenstimme, die Nachrichten spricht. Nichts Besonderes.

Das kleine Schwein begibt sich manchmal aus dem nächtlichen Wald hinaus auf einen Abhang, nicht viel mehr als eine sanfte Fallung, man könnte bei Schweinewetter gut auf dem Bauch hinunterrutschen die ganzen zweihundert Meter weit; und dort gräbt es Kartoffeln aus. Viel gibt der Acker nicht her, aber doch weit mehr, als das kleine Schwein auf einmal hinunterschlingen mag. Es gruffelt und muffelt zwischen den Saatkartoffeln herum, gräbt die gelöcherte Schnauze zwischen das Kartoffelkraut und bedient sich satt. Unterhalb des Gehänges funkelt ein Lichtermeer. Ja. Da sind alle diese Leute zu Hause, die sich Hochrechnungen und gestrandete Wale in den Kopf winden lassen. Eine Schwatzgirlande, die an den Hirnwindungen hochrankt. Das schwache Echo im Kopf des kleinen Schweins ist nur ein Abglanz davon, aus großer Entfernung gehört gewissermaßen; all das geht ja auch kein Schwein was an.

Ja.

Was das kleine Schwein aber angeht, ist, dass plötzlich so viele dieser Menschen sich in den Kopf gesetzt haben, die Fallung hinauf zu wandern und dort, tief zwischen den schwarzen Bäumen, die Nacht zuzubringen. Das Schwein hat sich längst an die widerstreitenden Gerüche gewöhnt, die aus dem Tal heraufquellen, von Autos und Radfahrern hinaufgeschleppt und abgeladen, und jeden Wanderer umgibt dieses gleiche Aroma. Nun plötzlich schwindet das Aroma nicht mit dem Sinken der Nacht; in der kompakten Schwärze des Waldes, der dicht vor dem Kartoffelacker endet, breitet sich etwas aus und wuchert die Straße entlang längs der rotumrandeten Schilder, die einmal vierzig, einmal sechzig verlangen oder endlich die achtzig freigeben. Die fremden Aromen kommen, man glaubt es ja nicht, aus den Splitkästen. Das kleine Schwein braucht Wochen, um diese Annahme zu verifizieren, während in seinem Kopf Herr Wowereit dieses verspricht und Herr Westerwelle eh weiß, dass das nichts wird. Das ist nicht mehr als Hintergrundgeschwalle, das Schwein hat sich längst daran gewöhnt. Was ihm aber gar nicht passt, ist dieses Aroma aus den Splitkästen. Gute zwanzig gibt es davon über den Wald verteilt. Sie sind grün, länglich und Steinchen quellen heraus. Und sie stinken nach Käse. Es liegen Menschen drin. Zusammengeknäuelt und scharf riechendes Lumpenzeugs über den Kopf gezogen. Als ob sie weg wollten aus dem Lichtermeer.

Als ob sie die Schnauze voll hätten.

Ja. Und das kleine Schwein leert ihnen die Taschen; was immer sie bei sich tragen, Käsestücke, Brotkrusten oder Äpfel, das Schwein macht keine Unterschiede und bedient sich satt. Manchmal sogar an einer Salamiwurst. Obwohl der singende Zahn ihm sagt, dass das der Untergang des Abendlandes sei, dass Schweine Würste fräßen.

Orpheus

- - können sie die augen öffnen? --
Er will nicht. Hinter den Augenlidern wird es strahlend hell. Das Letzte, woran er sich erinnern kann, ist das Chromgerippe, das auf ihn zuschnellte. Darunter das Nummernschild. Fremde Buchstaben. Das Muster der Dreckspritzer. Jeder Rostfleck, jeder Kratzer ist in die Netzhaut eingeätzt: Ein LKW, der ihn wie einen Tischtennisball von der Straße geschnippt hat.

- - hören sie mich? können sie die augen öffnen? --
Dann fällt ihm wieder ein: Er hob sich empor, so leicht wie eine Luftblase, die Welt geriet ins Trudeln, das Airbag platzte ihm entgegen und erschlaffte wieder, als zu liegen kam, sanft wie ein Schmetterling. Die Explosion von zerschmettertem Blech, die Erschütterung kamen erst einen Moment später: als habe ihn jemand mit einem gigantischen Hieb in den Rücken bis hinunter in die Kniekehlen zu Boden geschickt. Kein Schmerz. Nur ein Schlag, der ihm allen Atem genommen hat. Die Luft ist so vollständig aus seinem Körper herausgepresst, dass er nicht einmal genug Kraft zusammenbekommt, neu einzuatmen. Es scheint im Moment auch unnötig zu sein.
"Jetzt mache ich die Augen auf", denkt er und lässt sie geschlossen. Das geht drei-, viermal so im Kreis, bis er tatsächlich einen kleinen Sehschlitz öffnen kann und vor sich eine schwarze, konvex gebogene Fläche sieht: die Kunststoffverkleidung des Armaturenbretts, die sich vor sein Gesicht geschoben hat, nur wenige Fingerbreit entfernt. Das Lenkrad, das darunter sein sollte, ist außerhalb seines Sichtfelds gerutscht. Vermutlich ist es dort, wo eigentlich er selbst sein sollte oder noch ist. Etwas angenehm Warmes rinnt seine Nase entlang und tropft, nicht abwärts, sondern nach oben über die Stirn. Die Naturgesetze scheinen auf den Kopf gestellt. Er schließt die Augen, um darüber nachzudenken.
Etwas Weiches und Leichtes streift seine Wange, und als er seinen Sehschlitz wieder aufmacht, um die Welt hereinzulassen, hat er ein Notenblatt vor sich. So nahe, als wollte es fragen, wie es ihm denn ginge? Die Punkte und Striche auf dem Papier verschwimmen, dann löst sich eine dicke Träne aus jedem Auge und tropft aufwärts. Er selbst muss es sein, der kopfsteht, die Knie über sich (sofern er noch welche hat). Die Notenblätter haben den Rücksitz verlassen, auf dem er sie abgelegt hatte, und sich nach vorne begeben, um sich auf der Windschutzscheibe zu verteilen.
Er wollte singen, erinnert er sich plötzlich; irgendwo hinfahren und singen. Was es war, weiß er nicht mehr, wahrscheinlich irgendein Chorwerk, ein Oratorium – es muss etwas Langes und Gewichtiges gewesen sein, sonst wären der Notenblätter nicht so viele. Sie bedecken alles: die Frontscheibe, die mit verklebten Scherben im Wind flattert, die Scheibe zu seiner Linken wie mit schwarzer Teerfarbe bestrichen, die zur Rechten vernebelt; das Armaturenbrett, das sich nach oben beult wie schwere See.


Er ist des Todes, das weiß er, auch ohne seinen Körper zu sehen, durch den wahrscheinlich das Lenkrad hindurchgewandert ist. Aber er war unterwegs, um zu singen, und das ist es, was er zu Ende bringen will. Jetzt gelingt es ihm einzuatmen (er muss die ganze Zeit, während er nachdachte, ohne Luft ausgekommen sein), er atmet ganz ohne Schmerz nach hinten in die Flanken, wie man es ihm beigebracht hat, er spannt den Bauch an und stützt seine Stimme aufs Zwerchfell, ohne daran zu denken, dass er wahrscheinlich weder eine Stimme mehr hat noch Bauch oder Zwerchfell, auf das er stützen könnte; und er bringt ein Summen hervor, einen tiefen Ton, so tief, wie er es noch nie vorher geschafft hat. Er lässt den Ton ganz langsam los, am weichen Gaumen vorbeigleiten und von den dünnen Knochen in Nase und Wangen abprallen, bis die beifälligen Notenblätter, die Glasscheiben und alles, was von seinem Auto noch übrig ist, mitschwingen in einem langen Bogen. Für einen Augenblick sieht er ihn hinter dem Seitenfenster stehen und sich herabbeugen, den Fährmann mit seinem Ruder. Dann erstirbt ihm der Atem.


- - hören sie mich? können sie mich hören? bitte versuchen sie, die augen zu öffnen. Er fliegt zurück und prallt gegen das Armaturenbrett. Über ihm eine OP-Lampe, grüne Haube, Mundschutz, aufmerksame Augen, Hände. Er atmet ein. Zwischen ihm und dem Fährmann steht nur ein Lied.

Abiball

da gehen nixen in taft
mit gebräunten schultern
edelsteine im haar
auf ihren brauen
strahlt das blau
des blitzes nach

ihr leben balanciert
auf stöckeln

tränen tragen sie
im knopfloch
wo blieb die zeit
wo gehn wir hin

mein herz weint
ins korsett

___________________
3.7.2006 und heute

Der siebenunddreißigste April

Ich bin Schriftstellerin. Letztes Jahr ist ein Buch von mir erschienen, das »Der siebenunddreißigste April« heißt. Es ist 551 Seiten lang (die erklärenden Anmerkungen am Schluss nicht mitgerechnet), der Maler Goya spielt eine wichtige Rolle und ein sprechender Hund, zwei Morde und ein Kircheneinsturz kommen auch darin vor. Kurz gesagt, es ist wahnsinnig spannend. Trotzdem wollte kein Verlag es drucken, obwohl ich ein schönes Exposé ausgearbeitet hatte und die Lektoren immer sehr freundlich anschrieb. Meistens wurde die Ablehnung damit begründet, dass das Buch nicht ins Verlagsprogramm passe. Das war nur natürlich, denn ich hatte ja ganz bewusst ein Buch geschrieben, das es so oder vergleichbar noch nicht gibt.

Also habe ich das Buch auf eigene Kosten drucken lassen, und zwar in einer Startauflage von 8000 Stück. Gott sei Dank bin ich finanziell gut gestellt. Nachdem ich die Rechnung für den Druck der Startauflage beglichen hatte, blieb mir genug Geld übrig, einen kleinen Laden in meiner Stadt zu mieten. Der Laden ist unterhalb des Doms zu finden, zwischen einer Galerie und einem Weingeschäft. Diese Lage ist sehr günstig, weil die Kunden, die hier vorbeikommen, im allgemeinen zahlungskräftig sind und offen für Neues.

Meine Buchhandlung ist schön und gemütlich eingerichtet mit allem, was dazugehört: Regale an den Wänden, Büchertische in der Mitte, ein Wühltisch für Sonderangebote und hinten eine Sitzecke für Kunden, die in einem Buch ein wenig blättern möchten, ehe sie sich zum Kauf entschließen. Ich biete auch Kaffee oder Tee an, wenn jemand sich dort hinsetzt. Das kommt oft vor, denn meinen Kunden fällt die Wahl, welches Buch sie kaufen sollen, erstaunlich schwer. Die Bücher in meinem Laden sehen alle gleich aus. Auf dem Titelbild ist ein kleiner Hund. Sie sind professionell gemacht in guter Druckqualität; den Inhalt kenne ich gut und kann daher meine Kunden optimal beraten. Bestimmt bin ich die einzige Buchhändlerin in der Stadt, die jedes Buch in ihrem Laden ganz genau kennt. Ich habe mir auch bunte Aufkleber besorgt mit dem Aufdruck: »Unser Buch des Monats« und »Empfehlung der Geschäftsleitung«. Die meisten Bücher in meinem Laden habe ich schon mit einem solchen Aufkleber versehen. Nicht alle, denn das ist sehr viel Arbeit. Ich klebe immer ein wenig zwischendurch, wenn ich Zeit habe.

Leider habe ich aber fast gar keine Zeit, weil meine Kunden so anspruchsvoll sind. Sie kommen herein, mustern erstaunt die Regale, ziehen sich hier und dort ein Buch heraus, betrachten die Exemplare auf dem Wühltisch und fragen mich, wo der neue Ken Follett stehe. Darauf antworte ich, dass ich den nicht habe, aber demnächst komme er vielleicht herein. Dann empfehle ich stattdessen den Roman »Der siebenunddreißigste April«. Die Kunden setzen sich hinten in die Sitzecke und verlangen Kaffee, schlagen eines der Bücher auf und lesen zwei, drei Seiten. Wenn ihnen das Buch nicht gefällt, nehmen sie ein anderes und schlagen es etwas weiter hinten auf. Dann wollen sie meistens wissen, warum ich »nur dieses eine Buch« habe. Ich antworte darauf, dass ich mehrere tausend Bücher anbiete, und mehr kann ich nicht hereinstellen, da kein Platz mehr ist. Das können die Kunden nicht bestreiten; die vollen Regale sprechen für sich. Besonders Hartnäckige fragen dann, ob ich ihnen den neuen Ken Follett bestellen könne, aber das lehne ich immer ab. Ich habe genug Bücher; wer darunter nichts Passendes findet, dem ist nicht zu helfen.

Nach Feierabend, wenn ich meinen Laden aufgeräumt und Kassensturz gemacht habe, ziehe ich meistens ein Buch aus dem Regal; immer ein anderes natürlich. Und dann mache ich es mir gemütlich, lege die müden Beine hoch und lese noch ein wenig.



Francisco Goya, "Der Hund"
Quelle: Wikimedia

Das Wir

... oder: Bergvagabunden sind wir ...


Wir hängen so schön locker in den Seilen, wenn wir merken, dass uns keiner maßregelt; wenn uns keiner schlafen schickt um zwei Uhr morgens, wenn die Augen schon brennen und tränen; wenn uns niemand das dritte Glas Wein nachzählt, wenn niemand mosert, dass der frühe Vogel den Wurm fängt und wir auch samstags spätestens um acht aus den Federn sein sollten. Wenn wir wieder mal läppische Computerspiele gespielt haben, statt unser Geschichtlein für die Antho zu feilen, wenn wir genüsslich in unserem Zweihundert-Seiten-Roman stöbern, den außer uns keiner kennt; ja, es ist wahr, außer uns hat ihn nur ein einziger Mensch gelesen und der hat ihn inzwischen vergessen. Wie schön, ein Buch, das nur wir kennen. Wir haben nicht die geringste Lust, es in die Öffentlichkeit zu schmeißen. Wir sind so arrogant, dass wir von uns nur per "wir" reden, obwohl wir nur ein einziger sind. Und das hat sich ergeben, weil plötzlich alles, was uns sagte, was jetzt an der Reihe ist und Vorrang hat, verstummt ist.

Aus dem Zettelkasten

die hände über
die finger
(lose)
gedanke
(leicht)
dafür wie
dagegen
und überhaupt
besser
ganz ungesagt
spinnwebfein

der buchstabe
bleischwer

Das kleine Hotel

Das kleine Hotel steht in bester Lage am Rand eines aufgelassenen Friedhofs mitten in der Innenstadt. Ursprünglich war es eine öffentliche Bedürfnisanstalt, und daher rührt die schlichte Bauweise mit zwei Abteilungen links und rechts und einem Durchgangsraum in der Mitte. Ich habe der Stadt das Gebäude abgekauft und renoviert. Früher hatte ich eine rote Leuchtschrift auf dem Dach angebracht, die weithin verkündete, dass hier ein Zimmer frei sei. Inzwischen ist dieses eine Zimmer ständig belegt, so dass ich die Leuchtschrift abgeschaltet und schließlich ganz entfernt habe. Die Gäste folgen einander so dichtauf, dass ich kaum Zeit habe, das eine Bett abzuziehen und neu herzurichten; es ist meistens noch warm von dem letzten Gast, da tritt auch schon der nächste ein, den Rollenkoffer hinter sich herziehend, die gepolsterte Laptop-Tasche über die Schulter gehängt, und verlangt nach dem Zimmer.

Gleich hinter der Eingangstür wartet die mit rotem Samt und dunklen Eichenmöbeln ausgestattete Lobby, wo ich den Gast empfange, ihm die notwendigen Formulare zum Ausfüllen hinreiche und den einzigen Schlüssel von dem Brett hinter mir nehme, um ihn auf der Theke bereitzulegen. Mehr als dieses eine Zimmer, das rechts von der Lobby liegt (ehemals »Damen«) habe ich nicht; in dem anderen links davon (ehemals »Herren«) schlafe ich selbst, und meinen Schlüssel trage ich ständig bei mir. Hinter der Lobby schließlich liegt der Frühstücksraum, wo ich dem Gast morgens zwischen sieben und zehn ein reichliches Frühstück anbiete, mit drei Sorten Müsli, Marmelade, Käse, Wurst und Schinken; mit frischen Brötchen, in Scheiben geschnittenem Vollkornbrot, Croissants und Rührei; es ist für jeden Geschmack etwas dabei. Das Frühstück hat mir anfangs oft Kopfzerbrechen verursacht, denn ich muss alles bereitstellen, weil niemand vorher wissen kann, was der Gast verlangt. Zum Beispiel äußert ein französischer Gast, der eigentlich mit Croissants und Butter zufrieden sein sollte, plötzlich Appetit auf ein englisches Frühstück, oder ein Besucher aus Schweden, der Knäckebrot und Bückling essen sollte, möchte Toast und Marmelade haben. Inzwischen habe ich mir aber angewöhnt, einfach alles auf den Tisch zu stellen.Was übrig bleibt, esse ich selbst, und meistens reicht es mir für den Rest des Tages, so dass ich nicht mehr kochen muss.

Eine andere Schwierigkeit ist die mangelnde Auswahl an Zimmern, denn da ich nur ein einziges Zimmer habe, kann ich dem Gast nicht anbieten, in ein anderes zu wechseln, falls ihm das Bett zu hart oder zu weich oder nicht exakt gemäß der Erdstrahlung ausgerichtet sein sollte. Auch dafür habe ich eine Lösung gefunden; ich gebe dem Gast in diesen Fällen einfach mein eigenes Zimmer und ziehe in das Gastzimmer um. Damit das leicht vonstatten gehen kann, sind beide Zimmer gleich eingerichtet. Außerdem achte ich sorgfältig darauf, nicht mehr Besitztümer anzuhäufen, als in einen Koffer passen. Wenn der Gast gegen Mitternacht in der Lobby die Glocke schlägt, springe ich sofort hellwach aus dem Bett, und in Minutenschnelle habe ich alles aus den Schränken geräumt und in den Rollenkoffer geworfen; auch das Bad ist sofort geleert, frische Handtücher an den Heizkörper gehängt, und eingepackte Seifenstücke liegen ohnehin immer bereit. Ich besänftige den aufgebrachten Gast, der eben in dem ihm angewiesenen Zimmer einen Klopfgeist gehört hat oder wegen eines lärmenden Betrunkenen unter seinem Fenster nicht einschlafen kann; ich rolle meinen eigenen Koffer hinüber, bin dem Gast beim Einpacken und Umziehen behilflich, und binnen einer Viertelstunde haben wir die Zimmer getauscht; ich muss nur meinen Zimmerschlüssel, mit einer hölzernen Birne versehen wie der Schlüssel des Gastes, an das Regal in der Lobby hängen.

In den schlaflosen Morgenstunden kommt mich manchmal die Lust an, darauf zu bestehen, dass nun ich der Gast sei, da ich das Gästezimmer habe. Ich werde mich in das Frühstückszimmer hinter der Lobby hineingähnen, mich mit Müsli und frischem Obst, Vollkornbrot und Rührei, ausgebratenem Speck, Käse und Schinken bedienen; am besten so reichlich, dass für den anderen, der nunmehr der Gastgeber ist und sich an die Reste halten muss, kaum etwas übrig bleibt. Nach dem Frühstück werde ich meinen Rollenkoffer packen, in die Lobby treten und die Rechnung verlangen, und hinter mir wird das zerwühlte Bett bleiben, die nassen Handtücher auf dem Boden, die leere Klopapierrolle am Halter, die verschmierten Zahnputzgläser, die leeren Weinflaschen im Papierkorb. Vielleicht werde ich einen nett formulierten Eintrag im Gästebuch hinterlassen. Wahrscheinlicher aber ist, dass ich mich beim Auschecken, noch immer gähnend und die Laptoptasche über der Hüfte zurechtrückend, beschweren werde; über den Klopfgeist, das schlechte Wetter, den lückenhaften Internetempfang, den Zimmerservice und die klemmenden Fensterflügel, die einfach nicht aufgehen wollen, um mich wie eine Luftblase endgültig zu entlassen.

...

Alte Männer in Bademänteln
"Ich muss heim, meine Enkelin braucht mich"
"Die Ypsilanti war doch selber schuld"
"Ich muss die Beine bewegen"
"Mann, kann der Obama reden"
"Bei mir im Zimmer geht der Fernseher nicht"
"Die Regionalligen sind finanziell fast untragbar"
"Ich war doch immer 'n Bergwanderer"

Alte Frauen in Bademänteln
"Ich kann das nicht alles einnehmen"
"Ich muss heim, meine Enkelin braucht mich"
"Schauen Sie, ich zeig Ihnen meine Narbe,
wenn Sie sich nicht ekeln"

Blubbern als Kunst!

besetzte-stuehle-3-klein

Wort des Monats

"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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