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es ist eine halbe stunde zeit, dreißig minuten herumzubringen, bis der zug abfährt und draußen regnet es in strömen.

die rolltreppe trägt sie abwärts. der büchertisch steht links, sie lässt ihn stehen, zu hause liegen noch genug ungelesene bücher. sie wendet sich nach rechts und sagt beinahe "guten tag" zu einem lebensgroßen pappmännchen, das sich auf einen baseball stützt und lachend alle weißen zähne zeigt. das ist nicht die welt, nein, nicht die welt. sie selbst kann nur noch mit wenigen zähnen lachen, sie lacht ein viertellachen, zeigt allenfalls eine glänzende fassade aus porzellankronen. sie war lange zeit nicht mit dabei. das leben ist aus ihr gebröckelt. seit kurzem erst kehrt sie schüchtern zurück.

sie wird nichts kaufen. sie hat ohnehin nicht viel geld einstecken, das hat sie nie, wenn sie in die stadt geht, sie ist vernünftig. keine bücher, die regale sind voll. keine kleidung, der schrank ist voll. keine süßigkeiten, sie ist ohnehin zu dick. die schlanke junge frau in knielangen jeanshosen, die stiefel anprobiert, der blankgeputzte kleine hund, die lachenden teenager, die einander bunte klammern ins haar stecken: das ist nicht die welt, sie selbst ist nicht so, sie wird nicht so, nie. auch wenn es ihr einfallen sollte, das bankkonto abzuräumen, das gut gefüllte, und alles zu kaufen, was sie reizt.

nicht die welt. auch die anderen sind nicht so, das bildet sie sich ein, das ist nur schau. darauf fällt sie nicht mehr herein.

jetzt steht sie wieder im erdgeschoss vor der abteilung mit den sonderaktionen, beinahe läuft sie gegen die brötchentheke und erwidert das kichern der verkäuferinnen mit einem zucken der mundwinkel. es gibt halbedelsteinketten in allen variationen, bis zu 50 % reduziert. das zeichen 50 % schwebt über allen tischen und höhlt jeden widerstand aus, die null ist wie ein abgrund, ein riesenloch, das kann sie ohnehin nicht füllen, dazu reichen all die blinkenden bunten ketten auf den tischen nicht aus, die polierte jade, die geäderten onyxe, unschuldig schimmernd gespreizt wie gefallene tropfen; die hämatite, verstohlen und hämisch; die muschelkernketten, die plastik vorzutäuschen suchen, die giftig-verlogenen tigeraugen. sie greift nach einer kette mit geschnitzten fischen, lapis und karneol liegen eiskalt in ihren fingern. an der kette kleben drei preisschilder, sie ist von 129 euro über 89 und 69 euro auf 29,50 euro heruntergesetzt. sie legt die kette um ihren hals. der preis ist ihr egal, sie könnte den zehnfachen bezahlen. warum widerstand? die fische zucken auf ihrer haut, die sich kräuselt in abscheu. sie ist gefangen. ja. jetzt. - die welt.

die rolltreppe trägt sie ins tageslicht, der regen hat aufgehört. autos, bäume, menschen strahlen blankgewaschen. sie strebt dem bahnhof zu, die augen niedergeschlagen. ihre tränen haben keine kraft.

Wo der Hase noch gesehen ward

"Rain, Steam, And Speed" von William Turner


Quelle: Wikipedia

"Man sieht, wie vor dem Zug ein Feldhase flüchtet, rechts pflügt ein Bauer, und links unten befahren Leute auf einem Boot den Fluss" heißt es in einer Bildbeschreibung (Stefan Paulick). Das Boot kann man erkennen, aber schon den Bauern findet man nur mit viel Phantasie. Und vollends den Hasen kann ich nicht finden, obwohl ich auf einer schönen großen Reproduktion in einem Bildband mit der stärksten Brille gesucht habe. Ist er davongehüpft? Ein Zeitgenosse Turners soll dazu bemerkt haben, dass der Bildaspekt "speed" sich auf den Hasen bezöge, nicht etwa auf die Eisenbahn, so großspurig sie auch daherdampft. Vielleicht ist er gar nicht mehr da, der Hase. Denn gestern hörte ich, dass er, inzwischen um ein Vielfaches vermehrt, auf dem Mailänder Flughafen aufgetaucht sei. Wettlauf mit der Great Western Railway ist passé, total out, von vorgestern; der zeitgemäße Hase macht Wettlauf mit Flugzeugen auf der Startbahn. Und offenbar fürchten sich die Flugzeuge vor der Konkurrenz, denn am letzten Sonntag wurde die ganze Hasenpopulation von insgesamt 61 Löffelmännern zusammengetrieben und angeblich in einen "geschützten Park" ausgewildert. Die ganze Hasenpopulation? Nein! Mit zwei Brillen übereinander finden wir den Vorhüpfer dann doch noch bei Turner:



Allen Hasengöttern sei's gedankt. Wo er wohl noch hinhüpfen mag?

Blubbern als Kunst!

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(Meridian 2/2012)

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