Halbseiden

Le musée de la soie à St Hippolyte du Fort

Nun bin ich schon x-mal in der Provence gewesen und hatte bisher keine Ahnung, dass eine der wichtigsten Einnahmequellen dieser Gegend in früheren Zeiten die Seidenproduktion gewesen ist! Und das mir als Liebhaberin alles Textilen! Meine einzige Entschuldigung ist wohl, dass das Thema Seide auf den normalen Touristenwegen kaum ins Auge fällt - im Gegensatz zu den bekannten Themen Olivenöl, Wein, Lavendel, Malerei. Kanufahren und und und ... Man muss schon ein wenig gezielter suchen, um die berühmten weißen Seidenraupen bei der Arbeit beobachten zu können. In der Magnanerie in St. Hippolyte du Fort zum Beispiel. Die Arbeit der Seidenraupen heißt zum größten Teil: Fressen. (So gut möchte ich es auch mal haben.)
Während ihrer kurzen Lebensspanne verzehren die Raupen Tag und Nacht unter lauten Schmatzgeräuschen Unmengen von Maulbeerblättern. Viermal häuten sie sich, nach der vierten Häutung suchen sie einen erhöhten Platz und beginnen sich einzuspinnen. Früher haben die Raupenzüchter ihren Tierchen Heidekrautbüschel zur Verfügung gestellt; heute benutzt man dazu weiße Plastikgestelle.




In der Seidenherstellung darf der Schwärmer nicht ausschlüpfen, das würde den Kokon zerreißen. Er wird in speziellen Öfen noch vor dem Schlüpfen erstickt. Der Kokon wird gewässert und dann kann der feine Faden abgespult werden - ein echter Maulbeerseidenfaden. Manche Seidenraupen nehmen auch mit Eichenlaub und anderem vorlieb. Nur leider hat man dann keinen echten Maulbeerseidenfaden, sondern die wesentlich gröbere Wildseide. Die habe ich selbst schon verarbeitet; sie hat zwar nicht den speziellen Glanz der Maulbeerseide, ist aber durch den kühlen Griff auch sehr angenehm zu tragen. Keine "richtige" Seide, aber gut genug für einen halbseidenen Fisch.
Meine Hoffnung, in der Magnanerie Spinnseide kaufen zu können, ging leider nicht in Erfüllung - hier gab es nur fertige Stoffe und Kleidungsstücke, alles gut und teuer und nicht mal an Ort und Stelle gefertigt, sondern aus Madagaskar importiert. Aber was solls. Dafür konnte ich jede Menge Uraltmaschinen aus der Seidenindustrie bewundern.



Das ist ein alter Industriewebstuhl, im Vordergrund ein moderner Handwebstuhl, wie man sie heute noch in der Handweberei benutzt (und sich einen krummen Buckel dabei holt, habe ich mir sagen lassen).





Ein problematischer Arbeitsgang steht bei jedem Weben am Anfang: Das Schären und Aufbäumen der Kette. Breite Ketten aus feinen Fäden auf den Webstuhl zu bringen, ist mindestens so aufwendig wie das spätere Weben selbst. Hier kann man sehen, mit welchen Ungetümen dabei früher gearbeitet wurde und wohl auch heute noch gearbeitet wird, denn das Prinzip hat sich ja nicht verändert.




Hier eine Strickmaschine ehrwürdigen Alters. Vermutlich strickte sie wesentlich feiner als unsere heutigen Heimstricker, mit denen man selbst bei feinster Einstellung keine richtigen Seidenjerseys hinbekäme. In früheren Zeiten hat man auch die feinen Strümpfe aus Seide hergestellt. Ein Gerät zum Stricken von schlauchförmigen Stücken ist im Hintergrund zu sehen.




Wer mir sagen kann, wozu das mal gedient hat, gewinnt die halbseidene Maulbeere am Bande. Ich habe keine Ahnung. Bandwebstuhl? Sieht eher aus wie eine Guillotine. Vielleicht hat man damit die Seidenraupen geköpft, die nur fraßen, statt sich einzupuppen.




Und das hat mir besonders gefallen: der Fühlbereich des Museums. Hier darf und soll man anfassen und betatschen. Wer will, kann anhand der Schaubilder auch die verschiedenen Zwirnungen und Webarten nachvollziehen. Und sich danach aus dem Korb ein Stück Seide aussuchen, wenn das Portemonnaie dick genug ist. Bei mir hat's leider nicht gelangt; das Portemonnaie ist das einzige, was an mir schlank ist - ich bleibe halbseiden.


Mouton tarasconais

Übrigens habe ich mir durchaus auch was gegönnt: In einer kleinen Wollkämmerei in Niaux habe ich ein großes Stück Spinnwolle vom "mouton tarasconais" kaufen können, einer mir bis dahin unbekannten Schafrasse. Das Vlies ist sehr hell, beinahe weiß, und schön weich im Griff. Ich bin gespannt, wie es sich verarbeiten lässt. Und habe jedenfalls keine Seidenraupen auf dem Gewissen; das Schaf dürfte noch leben und grast hoffentlich friedlich auf seiner Weide im Roussillon.

Das Vlies zeige ich demnächst im Hinterzimmer. Sobald ich ein Foto habe. Weiteres demnächst!


Nachtrag: Viel Audon

Das ist nicht das Gegenteil von wenig Audon, sondern der Name eines Dorfs an der Ardêche, wo eine Handvoll Aussteiger daran arbeitet, die Seidenproduktion in der Provence wiederzubeleben. Einstweilen umhegt man eine Maulbeerbaumplantage und verkauft Ziegenkäse und andere Produkte der Region. Ich bin in einem zwanzigminütigen Fußmarsch von der Route National aus hingelangt (Autos sind in Viel Audon nicht gern gesehen, man macht hier Ernst) und gewann den Eindruck einer behelfsmäßigen Barackengruppe mit sehr aufwendiger Müllentsorgung. In einer Degustationsbude, wo es Honig und Wein gibt, ist die Arbeit in und an Viel Audon auf Plakatwänden dokumentiert. Gern hätte ich mich genauer umgesehen, es sieht interessant aus, doch dafür war leider keine Zeit.
Vielleicht gibt es in ein paar Jahren wieder echte provenzalische Seide? Ich habe mir das Eckchen an der Ardêche jedenfalls vorgemerkt. Zumal es auch noch eine "Filaterie" (vom Schaf zum Pulli!) gibt, die ich auch wegen Zeitmangel nicht mehr besuchen konnte.

Blubbern als Kunst!

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