Geworfen V

Was wissen wir über Willi?

- Warten Sie auch auf Herrn Willi?
- Warum?
- Weil Sie hier stehen.
- Ist schon viertel vor sechs.
- Vielleicht gilt die Zeitangabe halb sechs c.t., also eine Viertelstunde später.
- Dann sollte er jetzt da sein.
- Vielleicht ist er plötzlich krank geworden, haben Sie vielleicht eine Telefonnummer, wo man nachfragen könnte?
- Nee, nur die von der Volkshochschule.
- Da geht keiner mehr ran um kurz vor sechs.
- Würden Sie bitte die Zigarette ausmachen? Der Rauch stört mich.
- Wir sind unter freiem Himmel, es steht Ihnen frei, ein paar Schritte wegzugehen.
- Gehen SIE doch weg, wenn Sie hier rauchen müssen.
Drei Handys werden gezückt und in der üblichen Weise traktiert, ohne dass man dadurch klüger würde. Die vierte Teilnehmerin, eine blasse Blondine mit schwerer und ausgebauchter Schultertasche, nimmt kein Telefon zur Hand. Sie steht abseits und betrachtet blinzelnd die grauen Wolkenschiffe am Himmel.
- Gleich regnet's.
- Im Prospekt stand doch halb sechs, hier vor dem Atelier, richtig?
- Ja, sicher ist was dazwischengekommen.
- Oder er macht es mit Absicht.
- Warum denn das, um Himmels Willen?
- Dies ist doch ein Schreibkurs. Vielleicht sollten wir schon mal mit Schreiben anfangen. Thema: Der Lehrer macht blau ... oder so.
- Ja klar, wäre denkbar. Ich meine, was wissen wir schon über Willi? Nichts als den Namen.
- Was ist das überhaupt für ein Name, Herr Willi?
- Vielleicht überwacht er uns schon. Wir sollten was schreiben.
Drei Augenpaare schweifen umher auf der Suche nach versteckten Kameras. Die vierte Teilnehmerin beobachtet einen Apfelbaum, der aus einer Baumscheibe auf dem Parkplatz wächst und fast zusammenbricht unter dem Gewicht halbreifer Äpfel.
- Ich schreib ein Haiku, das geht schnell. Willi verspätet / Schüler warten und denken / Gedichte entstehen.
- Das ist kein Haiku, in der letzten Zeile ist eine Silbe zuviel.
- Ge-dan-ken-ent-ste-hen, stimmt doch.
- Das sind sechs Silben, eine ist zuviel.
- Verdammt, stimmt. Po-e-sie-ent-steht ...
Er zählt an den Fingern mit.
- Ich bin Prosaschreiber, ich fang lieber einen Krimi an. Vielleicht kommt er nicht, weil er ermordet wurde.
- Wer sollte denn Herrn Willi ermorden??
- Zum Beispiel ein Bewerber, den er nicht angenommen hat.
- Gibt es denn Bewerber, die er nicht angenommen hat?
- Ja, als ich mich beworben habe, war auch ein Türke hier, den hat er nicht genommen, der konnte angeblich nicht gut genug Deutsch.
- Nehmen wir mal an, er konnte durchaus Deutsch, wollte aber nicht in Deutsch dichten.
- Ja, er könnte ein Dadaist gewesen sein, die dichten nicht in Deutsch. Aus Lehrerverspütung / sprühen Gedünken / mir dünkt Wülli überflüsig. Das klingt doch schon beinahe wie Türkisch.
- Bitte keine Witze auf Kosten von Minderheiten mit Migrationshintergrund.
- Ich höre immer Minderheiten.
Drei Notizbücher werden aufgeklappt, aufs Knie gestützt und mit Fragmenten von Dichtung befüllt. Die blasse Blondine mit der schweren Tasche ist ein paar Schritte beiseite gegangen und betrachtet den Apfelbaum, von dem inzwischen vier Äpfel herabgefallen sind. Sie sind alle wurmstichig.
- Ich bleibe lieber beim Krimi, der Türke könnte den Herrn Willi erstochen haben. Aus Eifersucht.
- Das ist rassistisch, nehmen Sie einen deutschen Täter.
- Es könnte ja ein türkischstämmiger Deutscher sein mit deutschem Pass.
- Das ändert überhaupt nichts, das ist Rassismus, so was will kein Mensch lesen.
- Ich schreibe ja nicht, damit es einer liest, das ist ein ganz falscher Ansatz. Ich suche keinen Verlag, ich doch nicht. Ich schreibe nur zur Selbstverwirklichung.
- Dann verwirklichen Sie sich bitte ein paar Schritte weiter weg, der Rauch stört mich.
- Wir sind hier unter freiem Himmel, gehen Sie doch weg, ich will jetzt in Ruhe schreiben.
- Leiche des Lehrers / beflügelt Schülerdenken / vor verschlossener Tür ...
- Das ist erstens ohne jede Logik und zweitens immer noch eine Silbe zuviel.
- Meckern Sie doch nicht dauernd rum.
- Es ist schon nach sechs, Willi kommt sicher nicht mehr.
- Was ist denn mit der da, geht die jetzt etwa weg?
Drei Köpfe drehen sich um zu der blassen Blondine, die in Richtung Parkplatz davongeht, vom Gewicht ihrer Schultertasche schief gezogen.
- Was schleppt die denn eigentlich in ihrer Tasche?
- Bestimmt keine verborgenen Talente.
- Vielleicht hat sie eine Kettensäge dabei.
- Vielleicht hat sie Herrn Willi gekillt.
- Schülerin, frustriert / wendet sich Richtung Parkplatz / Säge blutbefleckt ...
- Also das gibt absoluuut gar keinen Sinn und ist totaaal gegen den Geist der japanischen Dichtung.
- Bleiben Sie mir weg mit Ihrem Geist. Ihr Rauch stört mich.
- Wenn Willi jetzt doch noch kommt, findet eh nichts statt, mit drei Schülern wird der Kurs nicht veranstaltet, zu wenig Nasen.
- Warum denn Nasen, was soll das?
Ein weißer Smart rollt auf den Parkplatz. Niemand schaut hin.
- Unter sieben Nasen gibt es keinen Volkshochschulkurs.
- Aber dann reicht das ja allemal nicht, wir sind drei, vorher waren wir vier.
- Der Lehrer zählt vielleicht auch mit, der lernt ja auch was.
- Volkshochschulverwaltungstechnisch zählt Willi nicht. und wir müssen sowieso mindestens sieben Nasen sein.
Aus dem weißen Smart steigt ein Mann aus, ein Meter fünfundachtzig, leptosom, energiegeladen, mit flatterndem Hemd: Sind Sie die Teilnehmer der Literaturwerkstatt??
Drei Köpfe nicken.
- Freut mich, ich bin der Leiter, mein Name ist Willi.
- Sind Sie jetzt zu spät oder wir zu früh?
- Eine ist schon abgehauen.
- Ach, dass Sie doch noch kommen, ich dachte, Sie seien tot.
- Und zerstückelt.
- Ich hab's hier schriftlich. Lehrer in Stücke zerlegt / ...
- Das sind sieben Nasen, äh Silben, da stimmt überhaupt nix mehr, und gegen den Geist der japanischen Dichtung geht es auch.
- Ja wollen wir dann? Sind das etwa alle? Ich fürchte, mit drei Leuten gibt es keinen Kurs ... aber gehen wir erst mal rein, vielleicht kommt ja noch der eine oder die andere ... bitte hier herein und links herum ... nehmen Sie Platz. Entschuldigung, aber hier ist Rauchverbot.

Blubbern als Kunst!

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(Meridian 2/2012)

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