Dem Nebel zugewandt ...

Gerade habe ich zum zweiten Mal "Die Poeten der Nacht" von Barry McCrea gelesen. (Das Buch, dem ich mein Romanrätsel entnommen habe.)
Laut Literaturkritik "eine Hommage an James Joyce", weil der Autor sich angeblich große Mühe gegeben hat, reale Orte (Straßen und Kneipen) in Dublin zu schildern; man könnte vermutlich mit dem Buch in der Hand die Schauplätze ablaufen. Man könnte. Ich lasse es lieber bleiben, denn die Kneipenszenen münden meistens in unappetitliche Besäufnisse oder in schwule Erotik. Aber das nur nebenbei.

Niall, der Erzähler, schreibt sich als Literaturstudent mit Stipendium an der Uni in Dublin ein. Bald kommt er in Kontakt mit zwei anderen jungen Leuten, John und Sarah, die nie ohne einen Stapel Bücher das Haus verlassen und überall lesend anzutreffen sind. Dahinter steckt, wie sich bald herausstellt, eine Art Orakel-Kult: John und Sarah verstehen sich als Angehörige eines elitären Zirkels und lesen die Antworten auf alle wichtigen Fragen des täglichen Lebens aus beliebig herausgegriffenen Buchstellen - in der gleichen Art, wie man im Volkstum eine Nadel in die Bibel sticht. Die beiden nehmen Niall, wenn auch widerwillig, in ihren "Kreis" auf.
Sie praktizieren - angeblich als Anhänger einer Sekte namens "Pour Mieux Vivre" - eine völlig neue Art des Lesens, in der Bücher nicht als Sammlung einzelner Geschichten verstanden werden, sondern als Wortdepot, gewissermaßen als intellektuelle Essenz der Menschheitsgeschichte. John zum Beispiel hat den ganzen Ulysses in, wenn ich mich richtig erinnere, sieben Stunden gelesen, Wort für Wort. Wovon das Buch handelt, hat er in der Eile nicht mitbekommen, aber er hat jedenfalls jedes Wort gelesen. Ähnlich absurde Arten des Lesens tauchen immer wieder auf. John, Sarah und Niall zeigen alle Symptome hochgradig infizierter Sektenschüler: Sie verlieren den Kontakt zur Wirklichkeit, sind nicht mehr in der Lage, normale Gespräche zu führen, weil sie ständig in Büchern blättern müssen (sie gehen nie ohne einen Stapel Bücher aus dem Haus), vernachlässigen sich selbst und ihre häusliche Umgebung. John verliert seinen Arbeitsplatz bei einer Bank, Niall um ein Haar sein Stipendium.
Es versteht sich von Anfang an - schon im Prolog wird es klargestellt -, dass Niall es irgendwie schaffen wird, aus dieser Abwärtsspirale wieder herauszukommen. Doch selbst in der Rückschau, aus der er seine Geschichte erzählt, scheint er den Mechanismus seiner Abhängigkeit nicht zu verstehen. Zumindest in einigen Punkten hat der Leser dabei mehr Durchblick als der Erzähler; zum Beispiel fällt Niall nicht auf, dass die Mailadresse des portugiesischen Sektenführers Luis ein Anagramm seines eigenen Namens ist (an mehreren Stellen des Romans tauchen Anagramme auf, die der Leser selbst klären muss, eine hübsche Aufgabe für langweilige Stunden am Computer). Nie ganz geklärt wird auch die Rolle von Nialls geheimem Führer: eine märchenhafte, vermutlich von Niall imaginierte Figur, ein junger Mann namens Pablo Virgomare, der ihm ganz zu Anfang bei seinem Einzug ins Studentenwohnheim zum ersten Mal begegnet und danach in Abständen immer wieder auftaucht. Virgomare, die Meerjungfrau? Niall sagt über ihn: "Ich musterte ihn immer ganz genau von oben bius unten, voller Zweifel, um mich von seiner Existenz zu überzeugen. Dabei registrierte ich alle Einzelheiten, seine gebräunte Haut, seine grünen Augen, die schicken Klamotten, die kleine Narbe über dem rechten Auge. Das menschliche Zucken seines Fleisches war für mich die Bestätigung seiner Existenz."
Dieser so wirkliche Mensch - mit ausgesprochen erotischer Ausstrahlung, so dürfte es jedenfalls gemeint sein - erscheint bereitwillig überall, wo sich Niall auf die Straße stellt und eine Zeile aus "Oranges and lemons, say the bells of St. Clement's" singt. In einem dem Roman vorangestellten Zitat bezieht sich McCrea ausdrücklich auf George Orwell. In "1984" ist der Kinderreim mit den Londoner Kirchenglocken eine der wenigen bruchstückhaften Erinnerungen, die der Protagonist noch an seine Kindheit hat.

"Poeten der Nacht" steckt voller Anspielungen, Zitate, Kinderlieder, und die Verwirrung eines Menschen, der sich in fast autistischer Weise mit ungeordneten Textbrocken vollstopft, wird meiner Meinung nach sehr anschaulich dargestellt. Ich kann die Amazon-Leserkritiken, die dem Erzähler z.T. Emotionslosigkeit vorwerfen, nicht nachvollziehen.
Wirklich durchsichtig wird Nialls Geschichte wohl erst dann, wenn der Leser - wie er selbst - sich zumindest zeitweise vom äußeren Sinn des Textes löst und statt dessen kreuz und quer nach Wortanspielungen sucht. Niall schreibt am Anfang des Romans einen Beitrag für eine Studentenzeitschrift mit dem Titel "Dem Nebel zugewandt" - ein hübsches Bild für diese Art des Lesens.

Ich sollte wahrscheinlich viel mehr darüber schreiben, was ich gelesen habe. Demnächst in diesem Theater werde ich mich über Albert Sánchez Piñol auslassen. Das tollste Leseerlebnis und die größte Enttäuschung 2009. Ich bezweifle, dass dieses Jahr ein noch größerer Höhenflug und Absturz kommt.

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