Wohnungssuche

Es war kurz nach halb zehn, und ich sollte den Makler um zehn Uhr vor dem Haus treffen. Ich war mit dem Zug angekommen, vom Bahnhof aus eine halbe Stunde mit dem Bus weitergefahren und hastete die Fußgängerzone hinauf, den Stadtplan in der Hand. Bis hierher war der Tag ein Reinfall. Um acht Uhr die erste Wohnungsbesichtigung, vorgeblich ein Souterrain, in Wirklichkeit ein niedriger Keller mit offen liegenden Wasserleitungen, die beständig rauschten. Um halb neun ein möbliertes Zimmer mit Familienanschluss; die Hausfrau öffnete mir die Tür, während der Ehemann im Unterhemd, Zigarettenstummel im Mundwinkel, an der Spüle stand und etwas schrubbte. Für die dritte Besichtigung musste ich noch einmal quer durch die Stadt. Ich war verschwitzt und mutlos.
In der Fußgängerzone fing der Vormittagsbetrieb an: Sonnenschirme wurden aufgespannt und Sitzkissen auf Klappstühle verteilt. Meine eigenen Gartenmöbel zu Hause musste ich auch noch verkaufen, fiel mir ein. Verdammter Umzug. Am liebsten hätte ich mich irgendwo hingesetzt und einen Kaffee bestellt. Statt dessen sollte ich dem Makler gegenübertreten, sicher ein geschniegeltes Ekelpaket, und einen möglichst guten Eindruck machen.
An der Straßenkreuzung, wo ich laut Stadtplan links abbiegen musste, war ein Bücherstand aufgebaut. Die Bücher waren genau von der Art, wie ich sie am liebsten mag: Leinenrücken, denen der Schutzumschlag abhanden gekommen war, mit schwer leserlicher Goldprägung; das Papier am Schnitt vergilbt. Ich ging langsamer und schaute in die Seitenstraße links. Lauf weiter, sagte ich mir, die Wohnung ist wichtiger, du kannst die Bücher nachher noch ansehen; und dann: was solls, du bist so gut wie am Ziel, die paar Minuten hast du noch, und mit der Wohnung wird es sowieso nichts. Ich setzte meine Tasche ab und begann zu blättern. Romane von vergessenen Autoren, manche sogar in Fraktur gedruckt und mit verblichenen Widmungen auf dem Vorsatzblatt. Ich nahm ein Buch nach dem anderen in die Hand, schaute nach den Preisen (zwei bis fünf Euro) und las hier und da eine Zeile. Nach wenigen Minuten wurden meine Knie weich und meine Kehle eng: Die Zeit rückte unerbittlich vor; ich musste zum Haus und den Makler treffen; ein interessantes Buch hatte ich nicht gefunden, aber so viele Bücher in der Hand gehabt und wieder hingelegt, dass ich es nicht über mich brachte, einfach wegzugehen.
Es war unsinnig, jetzt ein Buch zu kaufen, wo ich demnächst umziehen musste und ohnehin viel zuviel Kram besaß, der mir im Weg sein würde. Zwei Minuten vor zehn, der Makler wartete sicher schon, und ich sollte seriös und zuverlässig erscheinen. Der Besitzer des Bücherstands sah mich grimmig an. Hastig legte ich ihm einen Zehner hin, nahm meine Tasche und lief mit dem Buch, das ich gerade in der Hand hatte, davon, ohne auf Wechselgeld zu warten.
Das würde mir kein Glück bringen.

Ich musste nicht lange nach dem richtigen Haus suchen: Es standen bereits vier Leute davor, und als ich etwas außer Atem herankam, näherten sich noch zwei andere aus der Gegenrichtung. Misstrauisch beäugten wir einander, Konkurrenten um eine begehrte Beute: bezahlbarer Wohnraum im Zentrum einer Großstadt. Ich schaffte es gerade noch, das Buch in meine Tasche zu packen und meine Frisur etwas zurechtzustreichen, da tauchte hinter meinem Rücken der Makler auf und schüttelte jedem die Hand. Er war sehr jung, sah aus wie ein Pennäler in Nadelstreifen, hatte schwarze, perfekt geschnittene Haare und das Auftreten eines Menschen, der selbstbewusst wirken möchte, sich in seinen Erfolgen aber noch nicht ganz zu Hause fühlt.
Das Haus wurde aufgeschlossen, und wir kletterten fünf Treppen hinauf. Die Wohnung lag im Dachgeschoss. Auf dem obersten Flur führte eine schmale Bodentür zu einer sehr engen Spindeltreppe, über die man direkt in das leuchtend weiß gestrichene Wohnzimmer gelangte. In den USA hätte man es vielleicht ein Penthouse genannt, hier war es einfach ein ausgebauter Speicher. Ich wusste sofort, dass auch diese Wohnung für mich nicht in Frage kam; meine schweren Möbel konnte ich nicht über diese Spindeltreppe hinaufschaffen. Es war völlig sinnlos gewesen, herzukommen. Ein bohrender Missmut über die lange Zugfahrt und den vergeudeten Tag machte sich in mir breit, und während die anderen Interessenten sich im Wohnzimmer verteilten und die beiden Dachfenster bestaunten, bemerkte ich laut, ohne jemand Bestimmten anzusprechen: »Hier wird wohl alles vermietet, was vier Wände hat?« Der Makler warf mir einen verstörten Blick zu, so dass ich mich sofort schämte; es war ja nicht seine Schuld. Um meiner Bemerkung etwas die Schärfe zu nehmen, begann ich Interesse zu heucheln und betrachtete meinerseits die Dachfenster, die groß genug waren, dass man über eine kurze Leiter aufs Dach hätte hinaussteigen können. Die Gruppe wanderte inzwischen weiter durch das Bad ins Schlafzimmer und kam gleich darauf wieder zurück.
Der Makler führte die Küchenzeile vor, die edle weiße Kunststoff-Fronten hatte. Ich ging weiter in den Schlafraum. An zwei Seiten waren niedrige Einbauschränke; man hatte dazu einfach Schranktüren in die Dachschrägen gesetzt. Ich öffnete eine davon. Der Dachwinkel dahinter zog sich in dunkle Tiefen hinab, es schien Gerümpel darin zu liegen. Ich konnte nicht anders, ich musste hineinkriechen und untersuchen, was es dort gab. So bin ich schon immer gewesen. Ich durchsuche Flohmärkte und die Dachböden meiner Bekannten und rette altes Zeug, ehe es zum Müll wandert; ich betreibe so etwas wie einen Gnadenhof für Krempel. Wieder wurde meine Kehle eng: Verdammter Umzug.
Ich fand einen Stapel zerfledderte Polsterkissen; die Art Kissen, die man auf Liegestühle legt. Dahinter steckte ein ganzer Stoß gerahmter Bilder – er sah vielversprechend aus, aber das Licht war zu schlecht. Ich kroch rückwärts, zerrte den Stapel mit, und plötzlich wurde mir bewusst, dass es in der Wohnung ganz still geworden war. Ich krabbelte aus dem Schrank, richtete mich auf und klopfte die staubigen Knie ab. Unter mir, irgendwo im Treppenhaus, knallte eine Tür. Die anderen waren gegangen, mitsamt dem Makler. Ich war allein in der Wohnung. Ich rannte ins Wohnzimmer und die Spindeltreppe hinunter. Die Bodentür zum Treppenabsatz war abgeschlossen.
Wieder hinauf. Die Dachfenster hatte der Makler natürlich zugemacht. Ich klappte eines auf und versuchte einen Klimmzug am Fensterrahmen, um aufs Dach hinauszugelangen. Wenn ich schnell war, konnte ich mich noch zur Straße hinunter bemerkbar machen, ehe der Makler außer Hörweite war. Meine Zuversicht war ungebrochen; es würde alles klappen, gleich würde er wieder hinaufkommen, mich hinauslassen, wir würden lachen über das Missgeschick, und er hatte ganz bestimmt ein nettes Lachen über dem schicken Anzug und unter dem schön geschnittenen schwarzen Haar. Vielleicht hatte er Zeit für einen Kaffee; ich würde ihn einladen, ihm das neu gekaufte Buch zeigen und ihm erzählen, was für ein Schwachkopf ich war. Die Wohnung kam zwar nicht für mich in Frage, aber ein Kaffee wäre nett. Ich schaffte es, mich soweit aus dem Fenster zu stemmen, dass ich bäuchlings auf dem Dach zu liegen kam. Es war unverschämt hoch, geradezu unglaublich hoch. Die Straße war ein winziger heller Streifen in der Tiefe einer Schlucht. Ich piepste »hallo«, aber nur der Form halber. Der Makler und der Schwarm von Wohnungsinteressenten waren längst über alle Berge. Die Straßenschlucht lag verlassen.
Mein Handy – ich rutschte ins Wohnzimmer zurück und durchsuchte meine Tasche. Das Handy steckte in einem Seitenfach. Das Display war schwarz. Akku entladen. Das war nichts Neues. Da ich das Handy nur selten benutze, achte ich meistens nicht darauf, es rechtzeitig aufzuladen. Im Wohnzimmer gab es einen Telefonanschluss, aber natürlich kein Telefon.
Ich kletterte wieder die Spindeltreppe hinunter – diese verdammte Treppe, man bekam einen Drehwurm dabei – und wummerte mit den Fäusten gegen die Tür. »Hallo! Hallo!« Nichts rührte sich. Das Obergeschoss stand leer, oder es war niemand zu Hause.

Ein paar Minuten lang suchte ich nach einem Ausweg. Das Badezimmer hatte ein winziges Milchglasfenster in einer Gaube. Das Fenster im Schlafzimmer war größer, aber vergittert. Ich saß fest in dieser Wohnung, die etwas von einem Mastkorb hatte. Leere weiße Wände strahlten mich an. Selbst bei geschlossenen Fenstern hörte ich die Schreie der Mauersegler. Wenn ich ganz still stand, meinte ich die ganze Behausung im Wind schwanken zu fühlen.
Mein Blick fiel auf die offene Schranktür. Da lagen die Bilder.
Ich zog den Stapel aus dem Schrank. Das oberste Bild war so eingestaubt, dass ich es mit spitzen Fingern weglegte. Darunter lag eine sehr dunkle Reproduktion von Rembrandts Mann mit dem Goldhelm. Zwei leere Rahmen folgten, beide etwas aus dem Leim gegangen. Ganz unten im Stapel lag ein großes Porträt. Es reichte mir fast bis zur Hüfte. Ich lehnte es an die Wand, um es mit Abstand betrachten zu können. Die dargestellte alte Frau füllte den Rahmen fast ganz aus. Sie saß sehr aufrecht auf einem einfachen Stuhl und blickte mich streng an. Das Bild hatte einen breiten Goldrahmen und nahm sich vor der weißen Wand gut aus.
Ich überlegte ein paar Minuten, ob die Alte und ich Freundinnen werden könnten; ich setzte mich sogar ihr gegenüber auf den Boden und fragte: »Was meinen Sie? Was soll ich tun?« Aber ihre Miene wurde nur noch abweisender. Wahrscheinlich war sie der Meinung, ich hätte mich gar nicht erst in diese Lage bringen dürfen. »Es ist nun mal passiert!«, rechtfertigte ich mich. »Es tut mir ja leid, aber das hilft doch jetzt nichts mehr! Was soll ich machen?« Sie hielt die Hände ineinandergelegt. Die Hände waren recht groß, gerötet und verkrümmt, als seien sie ans Zugreifen gewöhnt. Jetzt umfassten sie einander und hielten still.

(Teil II folgt)

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