Wohnungssuche zweitens und letztens
… Man erzählte sich, dass die alte Eva einen zweiten Frühling erlebte und mit einem der Schnitter hinter den Strohmieten Zusammenkünfte hielt. Ihr Mann konnte sie nicht daran hindern, da er seit dem April mit Reißen in allen Gliedern darniederlag. Im Herbst starb er, und sofort liefen Gerüchte um, die alte Eva hätte ihn so vernachlässigt, dass er elend verhungert sei. Das Gerede kam der Gutsherrin zu Ohren, und sie machte sich auf den Weg zur alten Eva. Groß und herrisch stand sie in ihrem Kutschermantel in der Tür, und der weiße Haarschopf streifte beinahe den Türrahmen. „Was höre ich da, Eva? Du hast deinen Mann verhungern lassen?“
Die alte Eva brach sofort in Tränen aus. „Das erzählen sie, die Leute, ja! Aber es ist nicht wahr! Ich konnte nicht so nach ihm sehen, wie ich sollte, ich musste doch hinaus zur Arbeit. Aber ich habe immer für Essen gesorgt. Er hat alle Tage sein Brot und seinen Kornkaffee gekriegt!“
„Brot und Kaffee? Gute Frau, wie soll denn ein Kranker damit zu Kräften kommen, wie soll er überleben mit nichts als Brot und Kaffee?“
„Ich hatte keine Zeit zu kochen“, schluchzte die alte Eva, „ich musste doch auf den Acker und konnte keine Krankenkost zubereiten. Aber in meiner Jugend hatten wir auch oft wochenlang nur Brot und Kaffee! Keiner ist verhungert! Und wir haben schwer gearbeitet!“
Das machte die Gutsherrin nachdenklich. Ja, es stimmte, in früheren Zeiten hatten die Menschen mit nichts anderem als Brot und Kaffee schwere Arbeitstage überstanden und sich dabei wohl befunden. Wie kam es, dass diese einfache Nahrung heute nicht mehr hinreichte, um Leib und Seele zusammenzuhalten? Und sie fasste den Verdacht, dass es an der modernen Arbeitsweise liegen könne. Man machte fast nichts mehr mit eigenen Händen, es liefen Maschinen über die Äcker, niemand griff in die Krume. Vielleicht hatte das Korn seine Seele verloren und war nicht mehr so nahrhaft wie früher. Die Gutsherrin gab Anweisung, einen Teil ihrer Äcker wieder wie früher zu bewirtschaften, und stellte eigens dafür einige Arbeiter ab, solche vom alten Schlag, die sich nie ganz an die Sä- und Erntemaschinen gewöhnt hatten. Sie sollten die Saat wieder mit bloßen Händen ausstreuen und, wenn das Korn stand, wie früher mit Sense und Sichel mähen. Dann würde man sehen, welche Frucht nahrhafter war für Mensch und Vieh.
Ein Schatten fiel über das Buch – so erschien es mir. Als wäre jemand am Fenster vorbeigegangen. Was ausgeschlossen war in dieser Höhe.
Ich hatte ungefähr zwei Stunden gelesen. Der Roman war aus dem Schwedischen übersetzt und spielte irgendwann um die vorletzte Jahrhundertwende. Schnee und Dunkelheit im Winter, singende Erde im Sommer. Inzwischen war auch in der Wohnung die Sonne weiter gewandert; das Gitter vor dem Schlafzimmerfenster malte dunkle Linien an die weiße Wand. Draußen tönten Vogelschreie; das war sicher die ganze Zeit so gewesen, doch das Geräusch war am Rand meines Bewusstseins entlang gekrochen wie eine ferne Erinnerung. Jetzt klang es schriller denn je. Die alte Frau auf dem Bild musterte mich streng. „Und?“, fragte ich sie. „War das Experiment erfolgreich? Und haben Sie auch daran gedacht, sich bei Vollmond aufs Feld zu stellen und Kräutertee linksherum in die Furchen zu schütten?“ Sie antwortete nicht. Wahrscheinlich hielt sie es für unter ihrer Würde, einem überfütterten Menschen unserer Zeit Rechenschaft abzulegen. Wer das Brot beim Bäcker holte und nie im Leben Kornkaffee getrunken hatte, der hatte vermutlich kein Recht, solche Fragen zu stellen.
„Ich hätte nichts gegen einen Kaffee jetzt“, sagte ich, stand auf und ging ein wenig hin und her, weil meine Knie steif geworden waren. „Gucken Sie mich nicht so abfällig an. Ich bin keine Gutsherrin wie Sie. Ich kann nicht mal mein Haus behalten. Deshalb bin ich ja hier.“ Dann fiel mir eine andere Szene aus dem Buch ein – wie die Gutsherrin am Weihnachtsabend in den Stall gegangen war, um den Kühen und Ziegen für ihre Dienste zu danken. „Wäre vielleicht nett gewesen, in Ihrer Zeit zu leben“, sagte ich. „Kein Fernsehen, keine Banken, keine Scheidungen. Aber das kann sich niemand aussuchen. Wenn Sie mir also keinen Rat geben wollen, werde ich Sie aus dem Fenster werfen müssen. Ich weiß jedenfalls nicht, wie ich mich sonst bemerkbar machen könnte. Schließlich will ich hier nicht die Nacht verbringen.“ Wieder wanderte ein Schatten durch das Zimmer, so rasch wie ein Vogelflug. Ich drehte mich rasch zum Fenster um – vielleicht eine Taube? Als meine Augen zu dem Bild zurückkehrten, schien die Alte ihre Haltung verändert zu haben: Sie lehnte sich rückwärts an die Stuhllehne, und ihre Hände lagen ganz entspannt aufeinander. Sogar ihr Blick war weniger kritisch.
„Die Idee scheint Ihren Gefallen zu finden“, sagte ich. „Dann fange ich jetzt mit diesen beiden Rahmen hier an, die sind sowieso kaputt. Ich verspreche jedenfalls, dass Sie die Letzte sind, die an die Reihe kommt.“ Ich trug die Bilderrahmen nach nebenan und nahm auch den Stapel Polsterkissen mit, weil ich etwas zum Draufsteigen brauchte. Es gelang mir, mitsamt den Rahmen aufs Dach hinauszuklettern. Ich wagte mich nicht bis an den Rand vor, sondern blieb in kniender Stellung auf dem Fensterrahmen; aber ich schaffte es wahrhaftig, die beiden Rahmen über den Rand des Dachs hinauszuwerfen. Sie fielen in den Vorgarten und brachen auseinander; ich hörte den Aufprall.
Jedenfalls hatte ich keinen Menschen getroffen und keinen Schaden angerichtet. Aber es geschah auch sonst nichts. Der Mann mit dem Goldhelm schien eine wertlose Kopie zu sein. Ich beförderte ihn ebenfalls aus dem Fenster. Das eingestaubte Bild hinterher zu schicken, wagte ich nicht. Es war vermutlich ein Stilleben, jedenfalls erkannte ich Blumen, Früchte und einen Auerhahn oder Fasan, der auf dem Rücken lag. Vielleicht war es wertvoll.
Als letztes blieb mein Buch. Ich ging kurz mit mir zu Rate – und warf es hinaus. „He!“, schrie unten jemand. Ich beugte mich soweit wie möglich vor. „Bitte! Ich bin hier eingesperrt! Rufen Sie den Makler an!“ Unmöglich konnte das jemand gehört haben. Meine Stimme verlor sich im Wind und verflog über dem Hausdach. Ich sah Buchseiten davonflattern.
„Da haben wir’s“, sagte ich zu meiner Freundin und setzte mich wieder ihr gegenüber auf den Boden. „Nichts mehr zu lesen und nichts zu essen, nicht einmal Brot und Kornkaffee. Keine Unterhaltung mehr als wir beide.“ Sie lächelte breit. Ihre Arme hingen entspannt an ihren Seiten herunter. „Ein falsches Wort, und Sie fliegen auch hinaus“, drohte ich. Es war nicht ernst gemeint. Ich hätte niemals gewagt, sie durchs Fenster zu werfen. Gleichzeitig war ich sicher, dass dann jedenfalls jemand kommen würde. Die leeren Rahmen, der Mann mit dem Helm, das Buch – alles schien sinnlos davongeflattert zu sein. Aber wenn die Alte in den Vorgarten krachte, das bliebe bestimmt nicht unbemerkt.
Ich sparte mir die Gutsherrin als letzte verzweifelte Maßnahme auf, setzte mich wieder ihr gegenüber auf den Boden und wartete. Sie lächelte die ganze Zeit. Ein paarmal noch flog der Schatten am Fenster vorbei, aber ich blieb stur sitzen und schaute auf das Bild, bis mir fast die Augen zufielen.
Es kann nicht sehr lange gedauert haben, vielleicht eine halbe Stunde. Dann hörte ich die Bodentür klicken und schreckte hoch. Meine Füße waren eingeschlafen. Bis ich mich aufgerappelt hatte, stand der Makler schon in der Tür zum Schlafzimmer und blinzelte mich an.
„O Gott, habe ich Sie eingesperrt? Das tut mir sehr leid … ich bin angerufen worden, jemand sei hier in der Wohnung …“ Unsicher trat er von einem Fuß auf den anderen. Er hatte jetzt Jeans an, und sein Haar war struppig. An einer Schläfe klebte ein Streifen Mehl.
„Ich habe Sie wohl beim Backen gestört“, sagte ich.
„Ja, Kirschkuchen …“ Er lachte verlegen. „Wie ich sehe, haben Sie Gesellschaft …“ Er nickte zu dem Bild hin. „Das ist nur Trödel, sollte längst zum Sperrmüll. Wollen Sie die Wohnung haben?“
„O ja“, sagte ich, ohne zu überlegen. „Ja, ich nehme sie. Ich muss mir wohl ein paar neue Möbel kaufen, die ich diese Treppe hinauftragen kann, aber die Wohnung gefällt mir.“ Vielleicht tat es ja auch einfach eine Matratze auf dem Fußboden. Ein Klapptisch, Klappstühle … Im Geist begann ich die Wohnung einzurichten. Die Alte auf dem Bild hatte wieder die Hände ineinandergelegt und ihre strenge Miene angenommen.
Der Makler wurde geschäftsmäßig und fing an, mir den Mietvertrag zu erklären. Ich durfte nicht untervermieten und musste zweimal jährlich dem Schornsteinfeger die Tür öffnen, weil der einzige Zugang zum Dach durch die Wohnung führte. Hunde waren unerwünscht, aber eine Katze erlaubt. Während er sprach, wischte er sich das Mehl aus dem Gesicht und brachte seine Haare in Fasson, bis er fast wieder so edel aussah wie am Vormittag. Die Verwandlung war erstaunlich. Und, setzte er mit höflichem Lachen hinzu – vermutlich hielt er mich für hoffnungslos schrullig –, das Porträt durfte ich gern behalten, wenn ich wollte.
„Und Kaffee möchte ich“, sagte ich. „Trinken Sie einen Kaffee mit mir?“, ohne zu wissen, ob ich den Makler meinte oder die alte Frau. Er nahm an, immer noch lachend. Wahrscheinlich zweifelte er an meinem Verstand, aber das war ein guter Anfang.
Die alte Eva brach sofort in Tränen aus. „Das erzählen sie, die Leute, ja! Aber es ist nicht wahr! Ich konnte nicht so nach ihm sehen, wie ich sollte, ich musste doch hinaus zur Arbeit. Aber ich habe immer für Essen gesorgt. Er hat alle Tage sein Brot und seinen Kornkaffee gekriegt!“
„Brot und Kaffee? Gute Frau, wie soll denn ein Kranker damit zu Kräften kommen, wie soll er überleben mit nichts als Brot und Kaffee?“
„Ich hatte keine Zeit zu kochen“, schluchzte die alte Eva, „ich musste doch auf den Acker und konnte keine Krankenkost zubereiten. Aber in meiner Jugend hatten wir auch oft wochenlang nur Brot und Kaffee! Keiner ist verhungert! Und wir haben schwer gearbeitet!“
Das machte die Gutsherrin nachdenklich. Ja, es stimmte, in früheren Zeiten hatten die Menschen mit nichts anderem als Brot und Kaffee schwere Arbeitstage überstanden und sich dabei wohl befunden. Wie kam es, dass diese einfache Nahrung heute nicht mehr hinreichte, um Leib und Seele zusammenzuhalten? Und sie fasste den Verdacht, dass es an der modernen Arbeitsweise liegen könne. Man machte fast nichts mehr mit eigenen Händen, es liefen Maschinen über die Äcker, niemand griff in die Krume. Vielleicht hatte das Korn seine Seele verloren und war nicht mehr so nahrhaft wie früher. Die Gutsherrin gab Anweisung, einen Teil ihrer Äcker wieder wie früher zu bewirtschaften, und stellte eigens dafür einige Arbeiter ab, solche vom alten Schlag, die sich nie ganz an die Sä- und Erntemaschinen gewöhnt hatten. Sie sollten die Saat wieder mit bloßen Händen ausstreuen und, wenn das Korn stand, wie früher mit Sense und Sichel mähen. Dann würde man sehen, welche Frucht nahrhafter war für Mensch und Vieh.
Ein Schatten fiel über das Buch – so erschien es mir. Als wäre jemand am Fenster vorbeigegangen. Was ausgeschlossen war in dieser Höhe.
Ich hatte ungefähr zwei Stunden gelesen. Der Roman war aus dem Schwedischen übersetzt und spielte irgendwann um die vorletzte Jahrhundertwende. Schnee und Dunkelheit im Winter, singende Erde im Sommer. Inzwischen war auch in der Wohnung die Sonne weiter gewandert; das Gitter vor dem Schlafzimmerfenster malte dunkle Linien an die weiße Wand. Draußen tönten Vogelschreie; das war sicher die ganze Zeit so gewesen, doch das Geräusch war am Rand meines Bewusstseins entlang gekrochen wie eine ferne Erinnerung. Jetzt klang es schriller denn je. Die alte Frau auf dem Bild musterte mich streng. „Und?“, fragte ich sie. „War das Experiment erfolgreich? Und haben Sie auch daran gedacht, sich bei Vollmond aufs Feld zu stellen und Kräutertee linksherum in die Furchen zu schütten?“ Sie antwortete nicht. Wahrscheinlich hielt sie es für unter ihrer Würde, einem überfütterten Menschen unserer Zeit Rechenschaft abzulegen. Wer das Brot beim Bäcker holte und nie im Leben Kornkaffee getrunken hatte, der hatte vermutlich kein Recht, solche Fragen zu stellen.
„Ich hätte nichts gegen einen Kaffee jetzt“, sagte ich, stand auf und ging ein wenig hin und her, weil meine Knie steif geworden waren. „Gucken Sie mich nicht so abfällig an. Ich bin keine Gutsherrin wie Sie. Ich kann nicht mal mein Haus behalten. Deshalb bin ich ja hier.“ Dann fiel mir eine andere Szene aus dem Buch ein – wie die Gutsherrin am Weihnachtsabend in den Stall gegangen war, um den Kühen und Ziegen für ihre Dienste zu danken. „Wäre vielleicht nett gewesen, in Ihrer Zeit zu leben“, sagte ich. „Kein Fernsehen, keine Banken, keine Scheidungen. Aber das kann sich niemand aussuchen. Wenn Sie mir also keinen Rat geben wollen, werde ich Sie aus dem Fenster werfen müssen. Ich weiß jedenfalls nicht, wie ich mich sonst bemerkbar machen könnte. Schließlich will ich hier nicht die Nacht verbringen.“ Wieder wanderte ein Schatten durch das Zimmer, so rasch wie ein Vogelflug. Ich drehte mich rasch zum Fenster um – vielleicht eine Taube? Als meine Augen zu dem Bild zurückkehrten, schien die Alte ihre Haltung verändert zu haben: Sie lehnte sich rückwärts an die Stuhllehne, und ihre Hände lagen ganz entspannt aufeinander. Sogar ihr Blick war weniger kritisch.
„Die Idee scheint Ihren Gefallen zu finden“, sagte ich. „Dann fange ich jetzt mit diesen beiden Rahmen hier an, die sind sowieso kaputt. Ich verspreche jedenfalls, dass Sie die Letzte sind, die an die Reihe kommt.“ Ich trug die Bilderrahmen nach nebenan und nahm auch den Stapel Polsterkissen mit, weil ich etwas zum Draufsteigen brauchte. Es gelang mir, mitsamt den Rahmen aufs Dach hinauszuklettern. Ich wagte mich nicht bis an den Rand vor, sondern blieb in kniender Stellung auf dem Fensterrahmen; aber ich schaffte es wahrhaftig, die beiden Rahmen über den Rand des Dachs hinauszuwerfen. Sie fielen in den Vorgarten und brachen auseinander; ich hörte den Aufprall.
Jedenfalls hatte ich keinen Menschen getroffen und keinen Schaden angerichtet. Aber es geschah auch sonst nichts. Der Mann mit dem Goldhelm schien eine wertlose Kopie zu sein. Ich beförderte ihn ebenfalls aus dem Fenster. Das eingestaubte Bild hinterher zu schicken, wagte ich nicht. Es war vermutlich ein Stilleben, jedenfalls erkannte ich Blumen, Früchte und einen Auerhahn oder Fasan, der auf dem Rücken lag. Vielleicht war es wertvoll.
Als letztes blieb mein Buch. Ich ging kurz mit mir zu Rate – und warf es hinaus. „He!“, schrie unten jemand. Ich beugte mich soweit wie möglich vor. „Bitte! Ich bin hier eingesperrt! Rufen Sie den Makler an!“ Unmöglich konnte das jemand gehört haben. Meine Stimme verlor sich im Wind und verflog über dem Hausdach. Ich sah Buchseiten davonflattern.
„Da haben wir’s“, sagte ich zu meiner Freundin und setzte mich wieder ihr gegenüber auf den Boden. „Nichts mehr zu lesen und nichts zu essen, nicht einmal Brot und Kornkaffee. Keine Unterhaltung mehr als wir beide.“ Sie lächelte breit. Ihre Arme hingen entspannt an ihren Seiten herunter. „Ein falsches Wort, und Sie fliegen auch hinaus“, drohte ich. Es war nicht ernst gemeint. Ich hätte niemals gewagt, sie durchs Fenster zu werfen. Gleichzeitig war ich sicher, dass dann jedenfalls jemand kommen würde. Die leeren Rahmen, der Mann mit dem Helm, das Buch – alles schien sinnlos davongeflattert zu sein. Aber wenn die Alte in den Vorgarten krachte, das bliebe bestimmt nicht unbemerkt.
Ich sparte mir die Gutsherrin als letzte verzweifelte Maßnahme auf, setzte mich wieder ihr gegenüber auf den Boden und wartete. Sie lächelte die ganze Zeit. Ein paarmal noch flog der Schatten am Fenster vorbei, aber ich blieb stur sitzen und schaute auf das Bild, bis mir fast die Augen zufielen.
Es kann nicht sehr lange gedauert haben, vielleicht eine halbe Stunde. Dann hörte ich die Bodentür klicken und schreckte hoch. Meine Füße waren eingeschlafen. Bis ich mich aufgerappelt hatte, stand der Makler schon in der Tür zum Schlafzimmer und blinzelte mich an.
„O Gott, habe ich Sie eingesperrt? Das tut mir sehr leid … ich bin angerufen worden, jemand sei hier in der Wohnung …“ Unsicher trat er von einem Fuß auf den anderen. Er hatte jetzt Jeans an, und sein Haar war struppig. An einer Schläfe klebte ein Streifen Mehl.
„Ich habe Sie wohl beim Backen gestört“, sagte ich.
„Ja, Kirschkuchen …“ Er lachte verlegen. „Wie ich sehe, haben Sie Gesellschaft …“ Er nickte zu dem Bild hin. „Das ist nur Trödel, sollte längst zum Sperrmüll. Wollen Sie die Wohnung haben?“
„O ja“, sagte ich, ohne zu überlegen. „Ja, ich nehme sie. Ich muss mir wohl ein paar neue Möbel kaufen, die ich diese Treppe hinauftragen kann, aber die Wohnung gefällt mir.“ Vielleicht tat es ja auch einfach eine Matratze auf dem Fußboden. Ein Klapptisch, Klappstühle … Im Geist begann ich die Wohnung einzurichten. Die Alte auf dem Bild hatte wieder die Hände ineinandergelegt und ihre strenge Miene angenommen.
Der Makler wurde geschäftsmäßig und fing an, mir den Mietvertrag zu erklären. Ich durfte nicht untervermieten und musste zweimal jährlich dem Schornsteinfeger die Tür öffnen, weil der einzige Zugang zum Dach durch die Wohnung führte. Hunde waren unerwünscht, aber eine Katze erlaubt. Während er sprach, wischte er sich das Mehl aus dem Gesicht und brachte seine Haare in Fasson, bis er fast wieder so edel aussah wie am Vormittag. Die Verwandlung war erstaunlich. Und, setzte er mit höflichem Lachen hinzu – vermutlich hielt er mich für hoffnungslos schrullig –, das Porträt durfte ich gern behalten, wenn ich wollte.
„Und Kaffee möchte ich“, sagte ich. „Trinken Sie einen Kaffee mit mir?“, ohne zu wissen, ob ich den Makler meinte oder die alte Frau. Er nahm an, immer noch lachend. Wahrscheinlich zweifelte er an meinem Verstand, aber das war ein guter Anfang.
schmollfisch - 12. Nov, 22:12