Die Hand
Es begann damit, dass ich nicht mehr richtig sah. Genau gesagt, ich fand beim Klavierspielen das tiefe A nicht mehr. Das hohe A, die letzte Taste rechts, konnte ich gerade noch verschwommen erkennen, wenn ich auf dem Klavierstuhl saß; die letzte Taste links dagegen verschwand in einem flatternden Nebel. Da ich gerade ein Zwölftonstück übte, fiel es zunächst nicht sehr auf, wenn ich daneben haute. Meine Freundin Ulrike kennt sich jedoch leider gut mit Schönberg aus und wollte mich zum Arzt schicken.
„Das wird schon von selbst wieder“, suchte ich sie zu beruhigen, denn ich hasse volle Wartezimmer und zerfledderte Frauenzeitschriften. „Ich kann dir ja auch etwas anderes vorspielen. Etwas, das mehr in der Mitte der Klaviatur abläuft.“ Aber sie ließ sich nicht erweichen und suchte mir selbst einen Arzt aus den Gelben Seiten heraus. Einen Neurologen.
„Was soll ich beim Neurologen?“, begehrte ich auf. „Wahrscheinlich brauche ich eine Brille.“
„Glaub mir, es sind nicht die Augen, sondern die Nerven“, behauptete meine Freundin düster. „Ich weiß, wovon ich rede.“
Drei Tage später in der Praxis des Neurologen war die Sehstörung vorbei. Jedenfalls ganz beinahe. Trotzdem beschrieb ich einem kleinen drahtigen Herrn mit angestaubtem Haarkranz den Nebel vor dem tiefen A. Der Neurologe untersuchte dies und das, ließ mich die Zeigefinger zusammen führen, klopfte mit dem Hämmerchen auf meine Kniescheibe, klebte mir Elektroden an den Kopf und wedelte mit einem Laserpointer vor meiner Nase. Schließlich stach er eine Nadel in meinen linken Handballen und stierte in einen winzigen Bildschirm, während ich die Hand nach seinen Anweisungen bewegte. Es tat höllisch weh. „Herr Doktor“, sagte ich, „es sind die Augen, nicht die Hand.“
„Irrtum“, widersprach er und zog die Nadel heraus. Hinter mir kam ein Drucker in Gang und spie unter Seufzen ein langes Kurvenblatt aus. „Es ist die Hand, und zwar die linke. Die Sehstörungen kommen aus der Hand.“
„Was ist mit meiner Hand?“, fragte ich.
Er schob seine stahlgeränderte Brille auf die Glatze hinauf und vertiefte sich in das Kurvenblatt. „Hm … hm … hm … das sieht aber gar nicht gut aus. Hier, und hier, und hier, das sind melismatische Interferenzen, fast schon an der Grenze zur Solmisation. O je. Ich wette, Ihre linke Hand funktioniert schon längere Zeit nicht mehr richtig?“
Ich zögerte. „Eigentlich mache ich ja alles mit der rechten Hand ... nun ja, beim Klavierspielen, das tiefe A, Sie verstehen ...“
„Sie kommen zu spät, wir hätten früher einsetzen müssen“, seufzte der Arzt und raschelte mit dem Kurvenblatt. „Die Leute kommen immer zu spät. Nun ja, wir werden sehen, was sich tun lässt. Ich versuche erst einmal eine Therapie mit Nicotinamiden und Fulminaten. Viel trinken und nichts Schweres tragen.“ Was meinte er damit? Volle Bierkästen oder den Kummer über mein schweres Schicksal? „Unser Herrgott lädt keinem mehr auf, als er tragen kann“, sagte ich diplomatisch.
Er sah mich an, als sei ich nicht bei Trost. Dann kritzelte er auf seinen Rezeptblock. „Hier, je zehn Tropfen morgens und abends. In vier Wochen sehen wir uns wieder. Und wenn die Hand guidonisch werden sollte, kommen Sie sofort.“
„Das wird schon von selbst wieder“, suchte ich sie zu beruhigen, denn ich hasse volle Wartezimmer und zerfledderte Frauenzeitschriften. „Ich kann dir ja auch etwas anderes vorspielen. Etwas, das mehr in der Mitte der Klaviatur abläuft.“ Aber sie ließ sich nicht erweichen und suchte mir selbst einen Arzt aus den Gelben Seiten heraus. Einen Neurologen.
„Was soll ich beim Neurologen?“, begehrte ich auf. „Wahrscheinlich brauche ich eine Brille.“
„Glaub mir, es sind nicht die Augen, sondern die Nerven“, behauptete meine Freundin düster. „Ich weiß, wovon ich rede.“
Drei Tage später in der Praxis des Neurologen war die Sehstörung vorbei. Jedenfalls ganz beinahe. Trotzdem beschrieb ich einem kleinen drahtigen Herrn mit angestaubtem Haarkranz den Nebel vor dem tiefen A. Der Neurologe untersuchte dies und das, ließ mich die Zeigefinger zusammen führen, klopfte mit dem Hämmerchen auf meine Kniescheibe, klebte mir Elektroden an den Kopf und wedelte mit einem Laserpointer vor meiner Nase. Schließlich stach er eine Nadel in meinen linken Handballen und stierte in einen winzigen Bildschirm, während ich die Hand nach seinen Anweisungen bewegte. Es tat höllisch weh. „Herr Doktor“, sagte ich, „es sind die Augen, nicht die Hand.“
„Irrtum“, widersprach er und zog die Nadel heraus. Hinter mir kam ein Drucker in Gang und spie unter Seufzen ein langes Kurvenblatt aus. „Es ist die Hand, und zwar die linke. Die Sehstörungen kommen aus der Hand.“
„Was ist mit meiner Hand?“, fragte ich.
Er schob seine stahlgeränderte Brille auf die Glatze hinauf und vertiefte sich in das Kurvenblatt. „Hm … hm … hm … das sieht aber gar nicht gut aus. Hier, und hier, und hier, das sind melismatische Interferenzen, fast schon an der Grenze zur Solmisation. O je. Ich wette, Ihre linke Hand funktioniert schon längere Zeit nicht mehr richtig?“
Ich zögerte. „Eigentlich mache ich ja alles mit der rechten Hand ... nun ja, beim Klavierspielen, das tiefe A, Sie verstehen ...“
„Sie kommen zu spät, wir hätten früher einsetzen müssen“, seufzte der Arzt und raschelte mit dem Kurvenblatt. „Die Leute kommen immer zu spät. Nun ja, wir werden sehen, was sich tun lässt. Ich versuche erst einmal eine Therapie mit Nicotinamiden und Fulminaten. Viel trinken und nichts Schweres tragen.“ Was meinte er damit? Volle Bierkästen oder den Kummer über mein schweres Schicksal? „Unser Herrgott lädt keinem mehr auf, als er tragen kann“, sagte ich diplomatisch.
Er sah mich an, als sei ich nicht bei Trost. Dann kritzelte er auf seinen Rezeptblock. „Hier, je zehn Tropfen morgens und abends. In vier Wochen sehen wir uns wieder. Und wenn die Hand guidonisch werden sollte, kommen Sie sofort.“
schmollfisch - 15. Apr, 00:45