Baumgedanken

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Bäume sind über jeden Verdacht erhaben. Man kann bekanntlich gut über Bäume reden, zumal wenn es gilt, Wichtigeres, vielleicht Dramatisches zu verschweigen. Das ist zwar angeblich "fast ein Verbrechen", aber ich sehe nicht ein, dass ich an mich selbst die gleiche moralische Messlatte anlegen soll wie ein berühmter Schriftsteller.
Wenn meine Lyrik mal zum Bildungskanon gehört, dann lasse ich mich auch zum Gewissen der Nation machen. Eher nicht.
Und bis dahin richte ich meinen Blick aus luftiger Höhe auf Bäume, wie sie sich auf Hügel und Tal aneinander drängen, in Gruppen zusammengestaucht von riesigen Steinfeldern, die den Berg hinunterstürzen wie Gesteinsmuren, wie die Überreste geschmolzener Gletscher. Oder wie künstlich angelegte Kieswege von Riesenkindern. Die Bäume haben in dieser Landschaft jedenfalls nicht viel zu melden. Sie ringen mühsam um jeden Fleck Erde, den die Steinmasse ihnen übrig gelassen hat. Manche von ihnen, den Bäumen also, erheben sich ein wenig über ihre Umgebung, wie jemand, der inmitten einer Menschenmenge auf einen Schemel steigt, um mehr zu sehen. Früher, als ich noch Popkonzerte besuchte, habe ich mich manchmal auf irgendwas gestellt, um einen Blick auf die Bühne zu erhaschen. Die Bäume suchen vielleicht nach einem Flecken, wo sie mehr Platz haben, aber wenn sie ihn fänden, könnten sie ja sowieso nicht hingehen. Laufende Bäume gibt es nur bei Tolkien, bei Shakespeare immerhin noch laufende Büsche. Bei Martin Andersen Nexö kann man die wahrscheinlichste Version nachlesen: Der liebe Gott hat die Bäume festgetüdert, zur Strafe für ihre Faulheit.
Dabei gibt es sicher Bäume, die gern woandershin gingen, wenn sie nur könnten. Auch darin kannte Brecht sich aus: "Der einsame Baum im Steinfeld muss das Gefühl haben, dass alles umsonst ist. Er hat noch nie einen Baum gesehen. Es gibt keine Bäume." Brecht muss wohl auch am Schafstein gestanden haben, oder an einer ähnlichen Stelle, wo sich das Steinmeer in das Herz des Waldes ergießt, als gälte es, das Grün der Welt zu erwürgen.
Vielleicht hatte Brecht aber auch keine Ahnung von Bäumen und hat nur über sie geschrieben, weil sie auf alles irgendwie passen. Man kann sie gut als Sinnbild hernehmen für die Einsamkeit in einem Steinfeld, oder als unverfängliches Gesprächsthema, wenn man etwas Wichtiges verschweigen will. Das ist schriftstellerische Freiheit, und die Bäume können sich dagegen nicht wehren. Wenn man lange genug hinschaut, merkt man aber, dass sie es durchaus versuchen. Sie wenden die Wipfel um, sie steigen auf Schemel, oder vielmehr nein, sie steigen auf Blasen im Erdreich, um die anderen zu überragen und deutlicher rufen zu können: Hier! Schau her! Mich gab es schon, da warst du noch nicht mal ein Schleimtropfen in der Schöpfung, noch nicht einmal ein Plänchen in Gottes Gefüge! Deine Arme reichen nicht weiter als ein paar Zentimeter weit in die Welt hinein, einen Wirkungskreis von ein paar Metern im Radius hast du, einen Lebensraum von ein paar Jährchen, und noch nicht mal diese winzige Enklave, in der du herumwirtschaftest und die du dein Leben nennst, hältst du in Ordnung. Hast die Hände im Schoß und glotzt über die Weltgeschichte, machst dir Gedanken über Bäume auf Blasen, ohne an die Blasen in deinem eigenen Grund zu denken. Statt Wurzeln zu schlagen, hast du dich in der Luft aufgehängt mit deinen Gedanken, hast Papier beschrieben, Worte geblubbert, statt die Deinen zu suchen und zu stützen, hast du dich freiwillig ins Steinfeld gestellt. Nun geh deiner Wege und lass uns allein.

Blubbern als Kunst!

brille

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(Meridian 2/2012)

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