Fisherman's
Teil II (mit Dank an SuMuze für den Input!)
Ich habe festgestellt, dass man ganz gut ohne Stimme auskommt. Vorläufig jedenfalls.
Zur Zeit verdiene ich mein Brot als Apothekengehilfin. Das ist eine Tätigkeit, bei der man stundenlang, sogar tagelang stumm bleiben kann. Ich habe mir eine dicke Schaumstoffmanschette um den Hals gewickelt. Wenn mich jemand etwas fragt, zucke ich die Achseln und gestikuliere zu der Manschette hin. Man hat mich ins Hinterzimmer geschickt, wo ich Salben zusammenrühre und Kapseln mit Spezialpräparaten fülle. Den ganzen Tag lang.
Wenn ich nach Feierabend heimkomme, begrüße ich als erstes die Stimme. Ich klopfe ein wenig gegen das Marmeladenglas. Manchmal gibt die Stimme dann einen zarten Gickser von sich. Sonst verhält sie sich ruhig. Nur spät abends, wenn ich den Fernseher abschalte und es plötzlich ganz still in meiner Wohnung wird, höre ich sie manchmal leise singen. Natürlich artikuliert sie keine Worte, dazu braucht man bekanntlich Lippen und Zunge. Es klingt mehr wie ein Summen. Schön eigentlich, aber ein unzureichender Ersatz für meine verlorene Fähigkeit zu sprechen!
Natürlich habe ich die Flüssigkeit schon ein paarmal ausgewechselt. Für den Fall, dass Grappa meiner Stimme nicht schmeckt, habe ich am zweiten Tag einen guten Gin eingefüllt. Erste Qualität, damit die Stimme keine Kopfschmerzen bekommt. Am dritten Tag habe ich ihr einen Friesengeist gegönnt und heute morgen einen frischen Sambuca.
Und sonst habe ich weiter nichts unternommen. Um ehrlich zu sein, ich habe mir wohl vorgestellt, dass mir einfach irgendwann eine neue Stimme nachwächst. Jeden Morgen, noch im Bett, versuche ich als erstes ein stimmhaftes Räuspern. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Es klingt wie das Rascheln von Mäusen in Seidenpapier. Gestern gelang mir beim Gähnen ein kurzes "Huach". Vielleicht ein Anfang?
Jedenfalls habe ich die Wahlprospekte, die mittags mit der Post kamen, gleich weggeschmissen. "Ihre Zweitstimme für ..." Das könnte denen so passen, ich gebe denen überhaupt keine Stimme mehr, weder die erste noch die zweite, diesen unverschämten Säcken!!
Heute mittag kam dann die entscheidende Wende.
Ich saß wie üblich im Hinterzimmer der Apotheke und tütete Medikamente ein für den Kurierdienst. Am Rande bekam ich mit, dass vorne im Verkaufsraum viel Betrieb war, meine Kolleginnen hektisierten immer aufgeregter herum. Ich hätte gern geholfen, aber ich konnte ja nicht.
Bei den Aufträgen war eine Anforderung über ein gerinnungshemmendes Mittel für Frau Kaspari, Klempererstraße. Die Frau Kaspari war früher Tierärztin. Seit sie zwei Schlaganfälle gehabt hat, arbeitet sie nicht mehr. Aber früher hat sie immer meine beiden Zwerghäschen betreut - als ich noch welche hatte. Inzwischen sind sie leider beide tot, aber sie sind zwölf und dreizehn Jahre alt geworden, ein biblisches Alter für Zwerghäschen, und das verdanke ich bestimmt der Frau Kaspari. Sie ist eine wirkliche Tierfreundin. Sie ging mit ihren vierbeinigen Patienten um, als ob es Menschen wären. Da fällt mir übrigens ein, ich weiß immer noch nicht, ob Kaninchen eigentlich eine Stimme haben. Meine beiden haben nie was gesagt. Ich habe bei Google "Kaninchen" und "Stimmbänder" eingegeben, bekam aber nur Links zu Seiten über Tierversuche mit Tieren, denen man vorher die Stimmbänder durchschnitten hat, damit sie nicht schreien können ... ich weiß, ich komme vom Hölzchen aufs Stöckchen, aber ich bin etwas aus dem Tritt heute, weil ich zum ersten, wirklich zum ersten Mal so richtig SCHLAGFERTIG war!
Aber der Reihe nach! Ich machte also das Medikament für Frau Kaspari fertig und dabei fiel mir ein, dass ich ihr bei der Gelegenheit eine Freude machen könnte. Frau Kaspari liebt über alles diese fürchterlichen Halspastillen, diese Fisherman's Friends. Ich habe das Zeug nur einmal probiert - und nie wieder. Aber Frau Kaspari hat früher, als sie noch selbst in die Apotheke kam, immer eine Menge davon gekauft. Übrigens hat sie selbst eine sehr tiefe, rauhe Stimme, wie ein Nebelhorn. Eine richtige Bootsmannstimme. Ich überlegte mir, dass ich ihr in die Tüte mit dem Medikament ein Päckchen Fisherman's dazustecken könnte. Das musste ich allerdings von vorne aus dem Regal holen. Ich stand auf und ging in den Verkaufsraum hinaus.
Wir haben vier Theken, und an allen standen Leute. Und mitten im Verkaufsraum stand ein großer Kerl mit angegrauten Schläfen, der einen dunkelblauen Pullover anhatte. Ich erkannte ihn sofort. Es war mein Gesetzeshüter vom Parkplatz.
Ich tat mein Bestes, nicht bemerkt zu werden, zog den Kopf ein und langte ganz vorsichtig in den Ständer mit den Fisherman's. Doch er hatte mich schon gesehen. "Sie!", brüllte er los. "SIE! Sind Sie eigentlich übergeschnappt? Was fällt ihnen ein, in Ihrem Weblog über mich zu schreiben? Ich werde Sie wegen übler Nachrede verklagen, Sie!"
Ich hatte die Fisherman's schon in der Hand. Da ritt mich der Teufel. Ich riss das Päckchen auf und schüttete mir den ganzen Inhalt in den Hals. Es brannte wie Feuer. Und ich dröhnte zurück: "Ach, Sie sind es! Treten Sie ruhig nach vorne an die Theke. Da kann ich Sie viel besser ignorieren!"
Einen Augenblick war ich selbst fassungslos über meine neue Stimme. Gott sei Dank fiel ihm auch keine Antwort ein. Er machte den Mund auf und zu, aber es kam nichts heraus. Ob ihm auch gleich die Stimme aus dem Hals springen würde? Mein Blick fiel auf seinen Pullover - auf das gestickte Emblem auf seiner Brust. Da stand gar nicht "Polizei". Ich hatte falsch gelesen. Es hieß "Pozilei".
"Kommen Sie morgen wieder!", röhrte ich. "Die Kondome mit Himbeergeschmack sind gerade aus! Aber ich lege Ihnen gern welche zurück!"
Dann rauschte ich hinaus. Ob er noch was gesagt hat, weiß ich nicht.
In die Tüte für die Tierärztin legte ich das leere Päckchen Fisherman's und schrieb einen Gruß dazu von meinen verstorbenen Zwerghäschen.
Am Abend schickte man mich bis auf weiteres in Urlaub. Ich weiß auch noch nicht, ob meine Zukunft im Hinterzimmer einer Apotheke liegt, vielleicht sollte ich lieber zur Bühne. Zur Zeit übe ich "I Heard It In The Grapevine" in meiner Küche. Die Erststimme hüpft dazu in ihrem Glas auf und ab. Ich habe ihr diesmal reinen Wodka gegeben, das soll auch gut für die Stimme sein und macht Haare auf der Brust.
Ich habe festgestellt, dass man ganz gut ohne Stimme auskommt. Vorläufig jedenfalls.
Zur Zeit verdiene ich mein Brot als Apothekengehilfin. Das ist eine Tätigkeit, bei der man stundenlang, sogar tagelang stumm bleiben kann. Ich habe mir eine dicke Schaumstoffmanschette um den Hals gewickelt. Wenn mich jemand etwas fragt, zucke ich die Achseln und gestikuliere zu der Manschette hin. Man hat mich ins Hinterzimmer geschickt, wo ich Salben zusammenrühre und Kapseln mit Spezialpräparaten fülle. Den ganzen Tag lang.
Wenn ich nach Feierabend heimkomme, begrüße ich als erstes die Stimme. Ich klopfe ein wenig gegen das Marmeladenglas. Manchmal gibt die Stimme dann einen zarten Gickser von sich. Sonst verhält sie sich ruhig. Nur spät abends, wenn ich den Fernseher abschalte und es plötzlich ganz still in meiner Wohnung wird, höre ich sie manchmal leise singen. Natürlich artikuliert sie keine Worte, dazu braucht man bekanntlich Lippen und Zunge. Es klingt mehr wie ein Summen. Schön eigentlich, aber ein unzureichender Ersatz für meine verlorene Fähigkeit zu sprechen!
Natürlich habe ich die Flüssigkeit schon ein paarmal ausgewechselt. Für den Fall, dass Grappa meiner Stimme nicht schmeckt, habe ich am zweiten Tag einen guten Gin eingefüllt. Erste Qualität, damit die Stimme keine Kopfschmerzen bekommt. Am dritten Tag habe ich ihr einen Friesengeist gegönnt und heute morgen einen frischen Sambuca.
Und sonst habe ich weiter nichts unternommen. Um ehrlich zu sein, ich habe mir wohl vorgestellt, dass mir einfach irgendwann eine neue Stimme nachwächst. Jeden Morgen, noch im Bett, versuche ich als erstes ein stimmhaftes Räuspern. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Es klingt wie das Rascheln von Mäusen in Seidenpapier. Gestern gelang mir beim Gähnen ein kurzes "Huach". Vielleicht ein Anfang?
Jedenfalls habe ich die Wahlprospekte, die mittags mit der Post kamen, gleich weggeschmissen. "Ihre Zweitstimme für ..." Das könnte denen so passen, ich gebe denen überhaupt keine Stimme mehr, weder die erste noch die zweite, diesen unverschämten Säcken!!
Heute mittag kam dann die entscheidende Wende.
Ich saß wie üblich im Hinterzimmer der Apotheke und tütete Medikamente ein für den Kurierdienst. Am Rande bekam ich mit, dass vorne im Verkaufsraum viel Betrieb war, meine Kolleginnen hektisierten immer aufgeregter herum. Ich hätte gern geholfen, aber ich konnte ja nicht.
Bei den Aufträgen war eine Anforderung über ein gerinnungshemmendes Mittel für Frau Kaspari, Klempererstraße. Die Frau Kaspari war früher Tierärztin. Seit sie zwei Schlaganfälle gehabt hat, arbeitet sie nicht mehr. Aber früher hat sie immer meine beiden Zwerghäschen betreut - als ich noch welche hatte. Inzwischen sind sie leider beide tot, aber sie sind zwölf und dreizehn Jahre alt geworden, ein biblisches Alter für Zwerghäschen, und das verdanke ich bestimmt der Frau Kaspari. Sie ist eine wirkliche Tierfreundin. Sie ging mit ihren vierbeinigen Patienten um, als ob es Menschen wären. Da fällt mir übrigens ein, ich weiß immer noch nicht, ob Kaninchen eigentlich eine Stimme haben. Meine beiden haben nie was gesagt. Ich habe bei Google "Kaninchen" und "Stimmbänder" eingegeben, bekam aber nur Links zu Seiten über Tierversuche mit Tieren, denen man vorher die Stimmbänder durchschnitten hat, damit sie nicht schreien können ... ich weiß, ich komme vom Hölzchen aufs Stöckchen, aber ich bin etwas aus dem Tritt heute, weil ich zum ersten, wirklich zum ersten Mal so richtig SCHLAGFERTIG war!
Aber der Reihe nach! Ich machte also das Medikament für Frau Kaspari fertig und dabei fiel mir ein, dass ich ihr bei der Gelegenheit eine Freude machen könnte. Frau Kaspari liebt über alles diese fürchterlichen Halspastillen, diese Fisherman's Friends. Ich habe das Zeug nur einmal probiert - und nie wieder. Aber Frau Kaspari hat früher, als sie noch selbst in die Apotheke kam, immer eine Menge davon gekauft. Übrigens hat sie selbst eine sehr tiefe, rauhe Stimme, wie ein Nebelhorn. Eine richtige Bootsmannstimme. Ich überlegte mir, dass ich ihr in die Tüte mit dem Medikament ein Päckchen Fisherman's dazustecken könnte. Das musste ich allerdings von vorne aus dem Regal holen. Ich stand auf und ging in den Verkaufsraum hinaus.
Wir haben vier Theken, und an allen standen Leute. Und mitten im Verkaufsraum stand ein großer Kerl mit angegrauten Schläfen, der einen dunkelblauen Pullover anhatte. Ich erkannte ihn sofort. Es war mein Gesetzeshüter vom Parkplatz.
Ich tat mein Bestes, nicht bemerkt zu werden, zog den Kopf ein und langte ganz vorsichtig in den Ständer mit den Fisherman's. Doch er hatte mich schon gesehen. "Sie!", brüllte er los. "SIE! Sind Sie eigentlich übergeschnappt? Was fällt ihnen ein, in Ihrem Weblog über mich zu schreiben? Ich werde Sie wegen übler Nachrede verklagen, Sie!"
Ich hatte die Fisherman's schon in der Hand. Da ritt mich der Teufel. Ich riss das Päckchen auf und schüttete mir den ganzen Inhalt in den Hals. Es brannte wie Feuer. Und ich dröhnte zurück: "Ach, Sie sind es! Treten Sie ruhig nach vorne an die Theke. Da kann ich Sie viel besser ignorieren!"
Einen Augenblick war ich selbst fassungslos über meine neue Stimme. Gott sei Dank fiel ihm auch keine Antwort ein. Er machte den Mund auf und zu, aber es kam nichts heraus. Ob ihm auch gleich die Stimme aus dem Hals springen würde? Mein Blick fiel auf seinen Pullover - auf das gestickte Emblem auf seiner Brust. Da stand gar nicht "Polizei". Ich hatte falsch gelesen. Es hieß "Pozilei".
"Kommen Sie morgen wieder!", röhrte ich. "Die Kondome mit Himbeergeschmack sind gerade aus! Aber ich lege Ihnen gern welche zurück!"
Dann rauschte ich hinaus. Ob er noch was gesagt hat, weiß ich nicht.
In die Tüte für die Tierärztin legte ich das leere Päckchen Fisherman's und schrieb einen Gruß dazu von meinen verstorbenen Zwerghäschen.
Am Abend schickte man mich bis auf weiteres in Urlaub. Ich weiß auch noch nicht, ob meine Zukunft im Hinterzimmer einer Apotheke liegt, vielleicht sollte ich lieber zur Bühne. Zur Zeit übe ich "I Heard It In The Grapevine" in meiner Küche. Die Erststimme hüpft dazu in ihrem Glas auf und ab. Ich habe ihr diesmal reinen Wodka gegeben, das soll auch gut für die Stimme sein und macht Haare auf der Brust.
schmollfisch - 9. Jun, 01:14