schmollfisch liest

Ein Loch im Stein

Judith ist ausgezogen
(eine Szene aus meiner Geschichte "Der schwarze Falter")


Neben dem Schlüsselkörbchen lag noch etwas, was sie vergessen hatte – ein ovaler, glatter Stein, weiß und grau gesprenkelt. Ein »Handschmeichler«, so nannte Judith das. Sie hatte eine Schwäche für ausgefallene Steine, die sie auf Schritt und Tritt aufsammelte; die meisten warf sie wieder fort, doch einige begleiteten sie über Jahre hinweg. Einmal, als sie zusammen in Südfrankreich Urlaub machten, hatte sie am Strand einen Stein aufgehoben, der ein Loch in der Mitte hatte.
»Ein Hühnergott«, hatte sie zu ihm gesagt. »Das ist eine Seltenheit.« Und auf seinen fragenden Blick erklärte sie ihm, dass eine stetige und gleichmäßige Strömung einen kleinen Stein durch die Mitte des größeren getrieben hatte.
»Ja, ich verstehe schon, das ist ja nichts Ungewöhnliches«, hatte er ungeduldig geantwortet, »aber warum um Himmelswillen nennt man so ein Ding Hühnergott?«
»Das kann ich dir nicht sagen«, hatte sie erwidert. »Ich glaube, die Bezeichnung stammt von den Indianern. Vielleicht, weil sie meinen, dass so etwas nur ein kleines Wunder ist – gerade mal groß genug für die Hühner mit ihren kleinen Gehirnen?«

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Das neue Schlüsselwort zur Gelassenheit ist, laut Uta, die Einfachheit. Das Symbol dafür der Kieselstein.
Das ist ein Symbol, das mir unmittelbar einleuchtet. Nichts ist so kompliziert wie die Einfachheit. Ich beschäftige mich zum Beispiel im Hinterzimmer gerade mit dem Möbiusband - das ist so einfach, dass es schon beinahe peinlich ist, und trotzdem unbegreiflich. (Ich zeige morgen Bilder dazu.)
Von Schimanski alias Götz George habe ich gelesen, dass er eigentlich immer der Meinung war, die Drehbücher der Tatort-Krimis seien zu kompliziert, und auf Vereinfachung drängte. Shakespeare hat sich für seine Plots beim Sagengut bedient - und vereinfacht, vereinfacht, vereinfacht. Um desto deutlicher herauszuarbeiten, wie kompliziert der Kern war.
Toni Morrison schreibt über eine ihrer Hauptfiguren in "Menschenkind", ihr flatterten Kolibris unter der Kopfhaut. Man könnte auch einfach hinschreiben: es war Angst, Verzweiflung, Ohnmacht, Lähmung. Aber das wäre zu kompliziert. Sie mag es einfacher.
Ich glaube, es gibt gar keine Einfachheit. Es gibt nur Reduzierung. Den Blick auf das Wesentliche. Den Mikrokosmos. (Der so unendlich kompliziert ist.)

Im Auge ...

Die beiden sind ein altes Ehepaar. Wenn sie zusammen einkaufen gehen, geben sie ein Paar Witzfiguren ab, denn beide haben ein Essproblem. Der Mann kann absolut nichts essen, was irgendwie weich ist oder sich fettig anfühlt oder gar schmeckt. Vor Brötchen, Kartoffeln, Käse, Butter empfindet er Ekel. Er bringt kaum etwas hinunter und ist dünn wie ein Blatt Papier. An guten Tagen kann er ein wenig am Schreibtisch arbeiten, an schlechten schafft er es vor Schwäche nicht mal aus dem Bett.
Seine Frau ist sein genaues Gegenteil. Überlegend klaubt sie alles mögliche aus dem Supermarktregal und fragt ihn, ob er meint, das könne er essen. Meistens wendet er sich ab, weil ihm sich bei dem Gedanken der Magen umdreht. Dabei wandern nebenher Croissants, Schokoladeplätzchen, Feinkostsalate, Becher mit Pudding und Käseecken in den Einkaufswagen. All das ist für sie. Je mehr, je besser. Die ununterbrochene Sorge um den Mann, den sie liebt, ist von ununterbrochener Fresserei begleitet. Sie ist so fett, dass sie keine sechs Stufen steigen kann, ohne außer Atem zu geraten.
Irgendwann löst sich bei beiden etwas; ich weiß nicht mehr wodurch. Die Frau beginnt abzunehmen, der Mann beginnt wieder zu essen. Sie wird nicht schlank, er wird nicht dick, aber beide werden so normal, dass sie nicht mehr aussehen wie Figuren einer drittklassigen Boulevardkomödie.
Ihre Ehe ist sehr glücklich und war es immer. Seine Nahrungsverweigerung war ein oft besprochenes Thema, weil er dadurch seine Stelle verloren hat und mehrfach zusammengebrochen ist. Über ihre Fressattacken wurde nie geredet. Eines Tages fragt sie ihn: "Hast du eigentlich bemerkt, dass ich abgenommen habe?"
Er mustert sie, nickt zögernd. (Sie hat beinahe zwanzig Kilo abgenommen zu diesem Zeitpunkt.)
Sie fragt verwirrt weiter: "Aber du musst doch gemerkt haben, wie fett ich war!"
Er antwortet: "Warst du fett? Ich weiß nicht. Für mich bist du immer die gleiche, die ich damals geheiratet habe."
Ich hielt das für unmöglich, bis ich ein ganz ähnliches Erlebnis hatte - mit meiner Freundin, die ich nach 25 Jahren wiedertraf und die sich kein bisschen verändert hatte. (Habe ich irgendwann in diesem Blog schon erzählt.)
Soviel zur Ehrlichkeit und zu dem Symbol für die Ehrlichkeit, das Auge. Und zum unbestechlichen Blick auf Dinge und Menschen - und in sie hinein.



Wer über das bewusste Ehepaar mehr wissen möchte: Es gehört zu den dramatis personae in Ruth Rendells Roman "Der Liebesbetrug".

Die Schale

"Philipp Perlmann war es gewohnt, dass die Dinge keine Gegenwart für ihn hatten" beginnt Merciers Roman "Perlmanns Schweigen", für mich immer noch sein bester, nach wie vor. Das Thema des Buches, oder vielmehr eines der zentralen Themen, ist die Erinnerung. Wie zuverlässig ist sie, wie kommt sie überhaupt zustande; was erinnern wir (um es in gepflegtem Denglisch auszudrücken), was verdrängen wir, und was von dem, was wir erinnern, haben wir wirklich erlebt. Und auf die letztere Frage bezieht sich wohl auch der Eingangssatz, denn Perlmanns verstorbene Frau, Fotografin von Beruf, hat ihm mehrmals vorgeworfen, dass er die schönsten, eindrucksvollsten Augenblicke auf ihren gemeinsamen Reisen nicht erlebt, sondern nur abspeichert - um sie im nachhinein, vom gesicherten Korbsessel aus, als wunderschöne Erinnerung wieder hervorzuziehen. Ähnlich wie jemand, der eine Landschaft nicht anschaut, sondern fotografiert. Anschauen kann er sie ja immer noch. Zu Hause, wenn das Foto entwickelt ist. Man könnte boshaft hinzufügen: Wir sind es ja gewohnt, dass alles, was wir sehen, viereckig zu sein hat.

Die Vorstellung ist grässlich. Und es ist so viel Wahres daran, und das ist das Grässlichste daran. Nehmen wir Urlaubsreisen, die klassische Erinnerungsquelle. Wie viele Situationen empfinde ich als unmittelbar gegenwärtig erlebt? Als ich mich auf Korsika, bei der Besteigung eines Gipfels der Nordinsel, unter dem Gipfelkreuz auf den Boden legen musste, weil der Wind so heftig an mir riss. Auf drei Seiten war Meer, ungeheuer tief. Ich hatte Todesangst und war restlos glücklich. In Barcelona hatte ich so einen Moment, als ich vom Montjuic aus auf die Dachlandschaft hinuntersah. Es war nicht mein erster Besuch in Barcelona, aber es war der Beginn einer Liebe. Ich muss nachdenken, um mehr solcher Momente zu finden. Demgegenüber stehen die Momente des Abspeicherns, und das sind unzählige. Als ich im Augenblick des Erlebens den Gedanken hatte: Das muss ich mir merken. Das darf ich nie vergessen. In dem Augenblick, in dem er geboren wurde, war der Augenblick bereits Konserve. Und sich dessen bewusst zu sein, gibt dem unverstellten Blick den Todesstoß. So erlebte ich es in den bezaubernden Wäldern in Portugal, den schönsten Wäldern, die ich je gesehen habe: DAS schaue ich mir HIER UND JETZT an. Mit einem langen, langen Blick. Einem sehr bewussten. Wenn ich mich daran erinnere, erinnere ich mich an den Vorsatz, die Anstrengung. Und erst als zweites an den Blick selbst.

Als hätte ich eine Schutzschicht, wie ein persönliches Virenschutzprogramm, das nichts ungeprüft und unmittelbar hereinlässt, sondern erst auf Viren prüft, Verträglichkeit absichert, Kompatibilität, Erinnerungstauglichkeit. Das abwiegt, portioniert, eintütet und zuklebt. Der Moment hat keine Gegenwart. Er existiert nur als Erinnerung im Schaukasten.

Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, durchlässiger zu werden. Dass diese harte Schale porös wird, von mir aus zu einer dünnen Haut, von mir aus zu nichts. Was müsste ich dafür bezahlen?

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Dankbarkeit ist der dritte Schlüssel zur Gelassenheit, und das Symbol dafür ist die Schale. Ich lese das bei Uta nach, selbst kenne ich das Buch leider nicht. Vielleicht verstehe ich den Begriff Schale ein wenig anders als gemeint.
Außerdem hänge ich um einen Begriff nach, aber das sei mir (hoffentlich) verziehen, immerhin hatte ich heute Lesung und es war schön!

Die Küchenwaage

Die Küchenwaage funktioniert seit drei Jahren klaglos mit derselben Batterie. Angeblich wiegt sie grammgenau.
Beim Kuchenbacken brauche ich eigentlich keine grammgenaue Waage. Obwohl mein Backbuch versichert, Backen sei Maßarbeit, toleriere ich von jeher Abweichungen von bis zu 10 Gramm mehr oder weniger und bisher ist mir noch kein Kuchen misslungen. Doch, einmal, als ich bei meiner Schwiegermutter Hefeteig machen wollte und Salz statt Zucker hineinschüttete. Aber das lag nicht an der Waage, sondern daran, dass Schwiegermutter das Salz überaus großzügig in die Zuckerschütte gegeben hatte.
Wo ich wirklich grammgenaue Angaben haben müsste, um vernünftig zu arbeiten, das ist nicht in der Küche, sondern auf der Couch, wo ich sitze und stricke. Ich habe einen Seidenrest, handgesponnen, aus dem ich einen Lochmusterschal stricken will. Wenn ich einen Mustersatz gestrickt habe, hole ich die Waage, lege eine Stricknadel hinein und stelle auf Null. Dann nehme ich die Stricknadel heraus und lege das hinein, was ich bis dahin gestrickt habe. Das ergibt das Gewicht des Gestrickten abzüglich der Nadel.
Zum Vergleich wiege ich das Restknäuel, rechne per Division die Mustersätze hoch, messe die bisher erreichte Höhe nach und stelle fest, dass der Schal 80 bis 90 Zentimeter lang werden wird. 80 in Ruhestellung, 90 dann, wenn ich ihn langziehe. Da Seide sich immer enorm längt, bringe ich den Schal vielleicht auch auf einen Meter. Das ist immer noch zu kurz, da es sich um einen Multifunktionsschal* handelt, den man auch als Mini-Cape oder als Kapuze tragen kann. 120 Zentimeter muss er aber haben.
Das bisher Gestrickte aufziehen und schmäler stricken, damit es länger wird? Auf keinen Fall. Doch nicht ich! In aller Ruhe wühle ich mich durch die Faserkisten und finde in einer Plastiktüte drei Pröbchen reiner Maulbeerseide, unversponnen, farblich bestens harmonierend. Die lassen sich zwanglos in meinen Spitzenschal einfügen - ein Streifen Rostrot, ein Streifen Sonnengelb, ein Streifen Altgold. Schön wird das aussehen. Viel schöner, als wenn die Hauptfarbe für den ganzen Schal ausgereicht hätte.
Eigentlich brauche ich gar keine Waage.
Die im Badezimmer geht schon lange nicht mehr. Was solls.
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*Wisp von Cheryl Niamath

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Utas Schlüsselwort Nummer zwei ist Gleichgewicht, symbolisiert durch die Waage.
Gerade heute abend nahm ich den Zuwiegemodus dieser Waage, die genialste Erfindung seit Erfindung der Waage überhaupt, mal wieder in Gebrauch. Hinterher fragte ich mich, ob die Erfindung der Waage überhaupt wirklich so ein Geniestreich war. Brauchen wir Waagen? Wenn die Hose platzt, merken wir das sowieso.
Gelassenen Gruß!

Die Windharfe

Wind

Als ich klein war, wollte ich einen Balkon haben mit vielen, vielen Windharfen. Es gibt sie in allen Formen; ganz winzige, die hell klingeln wie Feenglöckchen, die mittelgroßen mit dem fein abgestimmten Geläute und die ganz großen hölzernen, die sich immer irgendwie nach Zen und Harakiri anhören.
Dann habe ich mal einen Krimi gesehen, in dem die weibliche Hauptperson ein Haus am Strand hatte, mit einem Freisitz aufs Meer hinaus. Rundherum hing alles voller Windharfen. Wenn nachts der Wind vom Meer her blies, klapperte und rasselte, läutete und bimmelte es in allen Tonlagen. Dazu der Wind und das Wellenrauschen. Ich glaube, bei dieser Frau hielt es kein Mann lange aus. Die meisten ergriffen schon nach der ersten Nacht die Flucht. Das war auch ihr Glück, denn wer länger als einen Tag blieb, nahm ein schlimmes Ende. Eine wahre Schwarze Witwe war jene Frau; ich glaube, so hieß der Film.
Aber man darf so zarte Gebilde wie Windharfen nicht im Meereswind aufhängen. Und überhaupt sollte man nicht ein ganzes Orchester aufhängen, sondern nur eine. Eine genügt. Am besten in einer warmen, windgeschützten Ecke, wo nur selten ein Lüftchen hinkommt und man auf jedes leise Klingeln harren und lauschen muss. Man kann zu zweit lauschen, mit einem Glas Rosé in Griffweite, aber eigentlich lauscht es sich am besten ganz allein. Bei Windstille. Wenn man jedes Lüftchen, das sich nähern will, von weitem kommen sieht. Wenn die Baumwipfel in der Ferne sich aufmachen und das hohe Gras auf der Heuwiese nebenan dazu nickt. So ein sanfter Wind braucht lange, bis er ankommt. Man kann zusehen, wie er sich nähert. Eine Spinnwebe, die seit drei Tagen neben der Holzbank am Fallrohr hängt, beginnt ganz leicht zu zittern. Und dann ist er da, der Wind, kämmt zart die feinen Härchen auf der Stirn und an den Schläfen und entlockt der Windharfe über deinem Kopf einen ganz leisen Ton. Lange hallt er nach.
Wenn gerade niemand in der Nähe ist, ihn zu hören, existiert er auch nicht, da er nur im Ohr des Hörenden entsteht. Ein Glück, dass wenigstens die Spinne da ist und zuhört, während sie in der Mitte ihres Netzes auf Beute wartet. Wie eine Schwarze Witwe.


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Ein herzliches Dankeschön an alle, die dazu beigetragen haben, mir den Abschied von Halli Galli schmackhaft zu machen!
Wie sich der genau gestalten wird, hoffe ich am Mittwoch herauszufinden, wenn ich mich beim Chirurgen vorstelle. Das wird ein feiner Tag, denn am Mittwochabend ist auch noch Lesung.

Uta hat in ihrem Weblog begonnen, zu zwölf Schlüsselworten der Gelassenheit und Lebenskunst kleine Texte zu schreiben. Dem ersten Schlüsselwort, der Achtsamkeit, ist die Windharfe zugeordnet. Das gefällt mir so gut, dass ich mich mit ein paar Gedanken zur Windharfe gleich anhänge. Danke, Uta, für diese schöne Idee.

Ach, Tolstoj ...

Klitschko-Bruder I: "Hier, für dich." *reicht ihm ein Buch*
Klitschko-Bruder II, ächzend: "Tol-stoj. Schwää-re Kost."


Zwei Männer sitzen im Zug beisammen, kommen ins Gespräch, und der eine erzählt dem anderen sein ganzes Leben. Es ist eine lange Erzählung, die die ganze Nacht hindurch dauert, denn es ist nicht nur der äußere Verlauf des Lebens, der erzählt wird, sondern der Erzähler kotzt sich regelrecht aus, er referiert seine Fehler, er klagt sich selbst an, ein grundfalsches Leben geführt zu haben. Und woraus besteht sein Fehler? Er schlief mit seiner Frau.

Die "sogenannte Liebe" ist ein Betrug, das Verhältnis der Männer zu ihren Frauen ist "ein Abgrund von Irrtümern und Täuschungen" und das, was der Erzähler den "Honigmond" nennt, ist "peinlich, beschämend, häßlich, jämmerlich und vor allem langweilig, unerträglich langweilig". Wenn die Menschheit endlich darauf verzichten würde und in der Folge ausstürbe, wäre das das beste, was passieren kann. "Wozu ist sie denn notwendig, diese Fortdauer des Menschengeschlechts?" Und so geht es weiter und weiter, ein Kapitel ums andere. Der dramatische Gipfel, der Mord an der Ehefrau, wird mehr nebenbei vermerkt ... die "Message" ist das Wichtigste.

Wie soll man so etwas bloß lesen? Und das gilt als Weltliteratur. Vom gleichen Autor immerhin, der "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina" geschrieben hat. Über mehr als hundert engbedruckte Seiten hinweg ergießt sich in Tolstojs Erzählung "Die Kreutzersonate" eine wahre Sturzwelle an sexualfeindlichen, ja lebensfeindlichem Geschwalle und Gewetter. Angeblich hat Tolstoj einige Jahre später der Erzählung einen Epilog hinzugefügt, in der er die Gedanken seines Eisenbahnreisenden ausdrücklich als seine eigenen deklarierte. Selbst in der Ehe sollten Mann und Frau wie Bruder und Schwester leben und die Ehe nicht durch sexuelles Erleben verunreinigen.

Und wie sah Tolstojs eigenes Eheleben aus? Er heiratete mit 34 Jahren ein achtzehnjähriges Mädchen, das eigentlich halb und halb mit einem anderen verlobt war, aber der Versuchung erlag, einen aufsteigenden Stern am Schriftstellerhimmel zu ehelichen. Wahrscheinlich war ihr gestiegenes Prestige das einzige, was sie von der Ehe hatte. Schon während des "Honigmondes" tyrannisierte ihr Mann sie mit übermäßiger Libido, wie ihre Tagebuchaufzeichnungen verraten: "Er liebt es, mich zu quälen und weinen zu sehen" schrieb sie schon kurz nach der Eheschließung in ihr Tagebuch. Die Ehe nahm tatsächlich einen Verlauf, der erstaunliche Parallelen zu der "Kreutzersonate" aufweist, wenn man Frau Tolstojs Tagebuch Glauben schenkt. "Ich weiß, dass ich ihm im Wege bin, wenn er mich nicht zu seiner Befriedigung braucht. ... Wenn nur die Leute, die die Kreutzersonate mit solcher Hochachtung lesen, einen Augenblick das erotische Leben sehen würden, das er führt - und das allein ihn glücklich und heiter macht - sie würden diesen kleinen Gott von dem Sockel herunterholen, auf den sie ihn gestellt haben ... es ist nicht schön, ein Tier zu sein, aber es ist auch nicht gut, ein Prediger von Prinzipien zu sein, die man selbst nicht imstande ist durchzuführen" schreibt sie 1891, nach fast dreißig Jahren Ehe, mit großer Klarsicht. Ihre freundschaftliche Beziehung zu einem Musiker betrachtete Tolstoj mit heftigem Argwohn - ganz wie der Erzähler der "Kreutzersonate".

Wollte Tolstoj denn überhaupt etwas erzählen - oder ging es ihm nur darum, mit den Mitteln der Schriftstellerei seine Moralvorstellungen zu ventilieren? So oder so - schwää-re Kost. Man schwankt zwischen Gähnen und ungläubiger Belustigung. Aber was ist das? Da stolpern wir im neunzehnten Kapitel über folgenden Satz, mit dem der Eisenbahnreisende seinen Nebenbuhler, den Musiker, beschreibt: "Der Körperbau schwächlich, wenn auch keine ausgesprochene Mißgestalt; auffallend das stark entwickelte Hinterteil, wie bei einem Weib oder einem Hottentotten. Die sollen ja auch sehr musikalisch sein." Autsch! Bei aller Vorsicht, heutige Maßstäbe an einen Text des neunzehnten Jahrhunderts anzulegen, ist es schwer vorstellbar, dass Tolstoj mit diesen Sätzen etwas anderes präsentieren wollte als hilflose, pöbelnde Gehässigkeit. Sein Eisenbahnreisender, der die Institution der Ehe, das ganze Verhältnis der Geschlechter zu klar zu durchschauen behauptet, hat in bezug auf sich selbst nicht den rechten Durchblick.

Und der Autor, wie weit hat er sich selbst durchschaut? Wenn ich den Kritiker "misanthropos" auf der Internetseite www.sandammeer.at (von dort stammen übrigens die Tagebuchzitate) richtig verstehe, dann hat der Moralist Tolstoj sich in dieser Erzählung "vor seinem eigenen unbestechlichen Blick der Lächerlichkeit preisgegeben." Vor seinem eigenen Blick, wohlgemerkt. Es ist immerhin die gleiche Zeit, in der Knut Hamsuns "Hunger" erschien - auch diesen tragischen Roman sollte man besser mit einem guten Schuss Ironie lesen, wird im Vorwort der Neuausgabe 1997 empfohlen.

Papier ist geduldig. Wasser predigen, Wein trinken und gehässige Erzählungen darüber schreiben - der Autor, der sich in einem moralischen Doppelsalto gleich zweimal selbst aufhebt, hat meine widerwillige Sympathie. Auch wenn man sich durch die hundert Seiten verquaster Moral nur mit schwää-rer Mühe kämpft. Vielleicht schreibe ich auch mal so etwas, das befreit bestimmt.

Addendum

Meine Tochter hat ein neues Notebook. Öffnen wir den Karton, danach den Innenkarton und daraufhin den Ganzinnenkarton, so fällt uns als erstes ein Zettel mit der Überschrift "Addendum für XY Notebooks" in die Hände. Darauf findet sich in vier Sprachen folgender wichtige Hinweis: "Bevor Sie zum ersten Mal das Notebook einschalten, stellen Sie bitte sicher, dass es mit einer Netzstromquelle (Steckdose) verbunden ist."
Das erinnert mich an mein neues Hobby: Ich sammle Dummsätze. Ein schönes Beispiel stammt leider von meinem Mann. Der Anlass für den Erwerb des neuen Notebooks war nämlich, dass Tochter das alte geschrottet hat. Die Festplatte ist über die Wupper. Aber mein Mann kennt jemanden, der jemanden kennt, der das bestimmt in Ordnung bringen kann. Zu dem wurde das malade Notebook alsbald gebracht und ihm, da gerade nicht zu Hause, bereitgestellt mit einer daranhängenden Notiz, etwa so:
- Der Rechner fährt nicht mehr hoch.
- Das letzte, was die Benutzerin gesehen hat, war der Verabschiedungsbildschirm.
- Festplatte scheint kaputt zu sein, CD-Laufwerk brennt schon länger nicht mehr.
- Auf dem PC befinden sich zahlreiche Dateien.

Haben Sie den Dummsatz erkannt? "Auf dem PC befinden sich zahlreiche Dateien." Nicht zu glauben. Ehrlich?
Ein schönes Beispiel eines Dummsatzes fand ich in Jean-Christophe Grangés "Das Imperium der Wölfe". Die Heldin Anna Heymes hat merkwürdige Zustände; völlig Fremde kommen ihr bekannt vor, dafür erkennt sie ihren eigenen Mann nicht mehr. Sie sucht eine Analytikerin auf. Diese lässt sich den Zustand schildern und stellt als erstes die Frage: "Haben Sie es mal mit einer guten Brille versucht?"
Das ist zwar eigentlich kein richtiger Dummsatz, denn die Analytikerin ist nicht dumm, es ist ein Gemeinsatz. Aber hätte sie ihn nicht aus Gemeinheit, sondern aus Dummheit geäußert (was zwanglos vorstellbar wäre), wäre es ein Dummsatz.
Reich an Dummsätzen sind Kochbücher und Anleitungen, wofür auch immer. Vor vielen Jahren gewann ich bei einer Tombola ein Taschenbuch mit dem Titel "Brot für Genießer". Im Vorwort findet sich folgende geistreiche Bemerkung: "Eine Anleitung, um Wurst auf Brot zu legen, werden Sie hier nicht finden." Was dann wirklich in dem Buch zu finden war, weiß ich nicht mehr, aber diesen Satz habe ich mir gemerkt.
Andere können sich gar nichts merken. Leonard, der bei einem Unfall sein Kurzzeitgedächtnis verloren hat, macht in "Memento" alle Leute darauf aufmerksam, dass er sie bei der nächsten Begegnung nicht wiedererkennen wird. Aus den Augen, aus dem Sinn. Immerhin bringt er geistreiche Dummsätze zustande. Eine Kellnerin erinnert sich: "Ach ja, wir sind uns schon mal begegnet. Sie sind der mit dem Gedächtnis." Darauf Leonard: "Nein, ich bin der ohne."
(Als ich kürzlich den Film noch mal sah, kam der Satz nicht mehr vor. Vielleicht habe ich ihn mir nur eingebildet und entschuldige mich sicherheitshalber für die Unterstellung.)
Die Krönung aller Dummsätze hebe ich mir bis zum Schluss auf. Es ist der Satz: "Ich habe nicht gewusst, dass der Schwamm nass sein muss." Eigentlich hatte ich gehofft, den Satz nicht erklären zu müssen, und habe deshalb eben damit gegoogelt. Leider gibt es im Netz keinen Verweis auf den Zusammenhang. Also, wohl oder übel: Der Satz stammt aus dem Film "The Green Mile" und fällt im Zusammenhang mit einer Vollstreckung auf dem elektrischen Stuhl. Ich lasse die Einzelheiten mal weg, es ist eine scheußliche Szene, aber der Satz ist vorbildlich für alle Dummsätze.
Wer noch einen hat, möge ihn äußern.

Alles relativ

In Sabine Thieslers Roman "Der Kindersammler" steht folgende Passage:

Mareike registrierte in der Laube alles ganz genau, als fotografiere sie in ihrem Hirn die Einzelheiten. (...) Der billige Kaufhausperser über der abgenutzten grün-bräunlichen Auslegware und das kitschige Bild mit der Tiroler Berg- und Seenlandschaft in einem primitiven beigefarbenen Rahmen, das Benjamin stundenlang angestarrt haben musste.

Wer mit beflügelter Phantasie liest, weil er just vor dem "Kindersammler" vielleicht Poe gelesen hat, der wird hier stolpern und sich fragen, wer wen angestarrt hat: Benjamin die Landschaft oder die Landschaft den Benjamin. Gut, ein nüchtern auf Krimilektüre gebürsteter Leser fragt sich das vielleicht nicht. Aber vollends gespenstisch wird es bei diesem Satz:

Die Bedienung brachte das Schinkenbrötchen, und Mareike sah fassungslos zu, mit welcher Schnelligkeit es Karsten verschlang.

Als ich meiner Tochter diesen Satz vorlas, gerann ihre Miene zu einer Maske des Schreckens. Vermutlich ektoplasmisierte sich vor ihrem geistigen Auge das Horrorbild eines Schinkenbrötchens, das ein zahnloses Maul aufreißt, um Karsten den Kopf abzubeißen. Nach kurzem Überlegen meinte sie: "Aber erlaubt ist das im Deutschen, oder?" Oder? Ein solches Satzgefüge gehobener Stilebene gemahnt mich etwa an den "Kampf um Rom", wo wir lesen können: "Rasch zur Seite warf sie den Purpurmantel." Man könnte ohne Verlust an Wucht und Pathos umstellen: "Rasch zur Seite den Purpurmantel sie warf" oder auch: "Ein Purpurmantel wallte von ihren weißen Schultern. Rasch zur Seite ihn sie warf." Das ist nicht gerade schön, aber wenigstens klar und logisch, weil kein Zweifel daran besteht, dass jene Sie den Mantel wegwirft und nicht umgekehrt. Karsten hingegen sollte besser, wenn schon die Bedienung, der Verzehr des Brötchens und Mareikes Staunen obdessen in einen einzigen Satz gepfercht werden müssen, dies besser auf schlichte Weise tun: "... und Mareike sah fassungslos zu, mit welcher Schnelligkeit Karsten es verschlang." So, das ist klar und eindeutig.

Besteht Karsten auf der gehobenen Stilebene, sollte er wenigstens was anderes bestellen. Denn äße er statt eines Schinkenbrötchens einen Butterkuchen, bekäme ihm das besser: "Die Bedienung brachte den Butterkuchen, und Mareike sah fassungslos zu, mit welcher Schnelligkeit ihn Karsten verschlang." Na bitte, geht doch.

Esst mehr Butterkuchen!

"Je suis BOSSU!"

Obwohl ich nur sehr wenig Französisch kann, habe ich mir als Souvenir eine DVD von "Jean de Florette" mitgebracht.
Dass der göttliche Yves Montand und der nicht minder göttliche Gérard Depardieu Hauptrollen spielen (letzterer mit Buckel!), wusste ich aus meiner Ausgabe des Romans "Die Wasser der Hügel" von Marcel Pagnol, die einige Szenenfotos aus dem Film enthält. Unter anderem Depardieu mit einem Kaninchen im Arm!
Wen ich aber auf diesen Szenenfotos nicht erkannt habe, das ist der obergöttliche Daniel Auteuil! Und das trotz seiner charakteristischen schiefen Nase! Dem haben sie nämlich derart chaotische Zähne gemaskenbildnert, dass er sich wirklich kaum noch ähnlich sieht. Die Nase fällt da gar nicht mehr auf.



Ich versteh zwar das Wenigste, aber da ich das Buch gut kenne, kann ich der Handlung folgen. Herrlich die provenzalische Aussprache. Auteuil als Ugolin Soubeyran stellt sich als "Ügoleng Subeyrang" vor.
Aus dem Buch, Brief von Attilio an Ugolin:
"Schreib mir nochmal, aber gib etwas Obacht auf Deine Rechtschreiberei! Man versteht nix, muß immer nachschlagen! Ich sag das nicht, um Dich zu ärgern. Bei mir kommt's auch vor, daß ich mich bei einem Wort nicht auskenne, wie man's schreibt, dann tu ich eben ein anderes an seiner Stelle nehmen!"
Ein trauriges Buch übrigens. Als Ugolin spontan seinen Paten umarmt, schubst dieser ihn zurück: "Vergeuden wir unsere Zeit nicht mit Schweinereien."
Ist das nun zum Lachen oder zum Weinen?

Und auch sehr traurig - Ugolins aussichtslose Liebe.
Nach seinem Selbstmord fragt jemand, ob er denn wirklich absolut gar keine Chance bei der Angebeteten gehabt habe.
Der nicht eben geistreiche Kommentar eines Anwesenden dazu:
"Er war sehr hässlich."
Darauf antwortet der Frager: "Alle Männer sind hässlich!"



Also ich finde die beiden hier schön ... obwohl der eine einen Buckel und der andere eine schiefe Nase hat. Sieht man ja hier übrigens auch nicht.

Zettelkasten

Ich habe so ein (natürlich virtuelles) Ding auf dem Rechner. Es heißt "Scribble Papers" und ist für schnelle Notizen zwischendurch gedacht.
Eben habe ich mal ein bisschen darin geblättert, auf der Suche nach einer Tiergeschichte.
Dabei fand ich diesen Eintrag:

-- Der Windgott kommt in den Wäldern Kanadas und im nördlichen Eismeer vor. Manchmal auch in Sibirien. Er hält sich am liebsten dort auf, wo niemand ihn sieht und von ihm Kunde geben könnte.
So weiß man, dass der Windgott in großen Höhen und sehr schnell fliegt, und wenn er einen Menschen entführt auf seinem rasenden Flug, dann verbrennen diesem Menschen wegen der Reibungshitze die Füße.
An einem kleinen Waldsee steht eine junge Frau, die ihren Hund ausführt. Es ist ein kleiner weißer Wuschelhund, sorgfältig getrimmt und frisiert. Der Hund hat die Vorderpfoten im Wasser und schaut mit trüben Augen auf die Wellenringe. Die Frau steht in der Nähe, die Hundeleine zusammengerollt in der Hand, die andere Hand in der Manteltasche. Sie befühlt ihr Handy, drückt müßig die Tasten in den Tiefen der Tasche. --

Und auf dem nächsten virtuellen Zettel steht:
pluto will asche sehen.
5.2.2006


Es stehen noch andere Sachen da, aber bei denen weiß ich, was sie bedeuten. Bei diesen beiden nicht.
Habe ich das geschrieben?
Warum?

Blubbern als Kunst!

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"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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