Die Schale
"Philipp Perlmann war es gewohnt, dass die Dinge keine Gegenwart für ihn hatten" beginnt Merciers Roman "Perlmanns Schweigen", für mich immer noch sein bester, nach wie vor. Das Thema des Buches, oder vielmehr eines der zentralen Themen, ist die Erinnerung. Wie zuverlässig ist sie, wie kommt sie überhaupt zustande; was erinnern wir (um es in gepflegtem Denglisch auszudrücken), was verdrängen wir, und was von dem, was wir erinnern, haben wir wirklich erlebt. Und auf die letztere Frage bezieht sich wohl auch der Eingangssatz, denn Perlmanns verstorbene Frau, Fotografin von Beruf, hat ihm mehrmals vorgeworfen, dass er die schönsten, eindrucksvollsten Augenblicke auf ihren gemeinsamen Reisen nicht erlebt, sondern nur abspeichert - um sie im nachhinein, vom gesicherten Korbsessel aus, als wunderschöne Erinnerung wieder hervorzuziehen. Ähnlich wie jemand, der eine Landschaft nicht anschaut, sondern fotografiert. Anschauen kann er sie ja immer noch. Zu Hause, wenn das Foto entwickelt ist. Man könnte boshaft hinzufügen: Wir sind es ja gewohnt, dass alles, was wir sehen, viereckig zu sein hat.
Die Vorstellung ist grässlich. Und es ist so viel Wahres daran, und das ist das Grässlichste daran. Nehmen wir Urlaubsreisen, die klassische Erinnerungsquelle. Wie viele Situationen empfinde ich als unmittelbar gegenwärtig erlebt? Als ich mich auf Korsika, bei der Besteigung eines Gipfels der Nordinsel, unter dem Gipfelkreuz auf den Boden legen musste, weil der Wind so heftig an mir riss. Auf drei Seiten war Meer, ungeheuer tief. Ich hatte Todesangst und war restlos glücklich. In Barcelona hatte ich so einen Moment, als ich vom Montjuic aus auf die Dachlandschaft hinuntersah. Es war nicht mein erster Besuch in Barcelona, aber es war der Beginn einer Liebe. Ich muss nachdenken, um mehr solcher Momente zu finden. Demgegenüber stehen die Momente des Abspeicherns, und das sind unzählige. Als ich im Augenblick des Erlebens den Gedanken hatte: Das muss ich mir merken. Das darf ich nie vergessen. In dem Augenblick, in dem er geboren wurde, war der Augenblick bereits Konserve. Und sich dessen bewusst zu sein, gibt dem unverstellten Blick den Todesstoß. So erlebte ich es in den bezaubernden Wäldern in Portugal, den schönsten Wäldern, die ich je gesehen habe: DAS schaue ich mir HIER UND JETZT an. Mit einem langen, langen Blick. Einem sehr bewussten. Wenn ich mich daran erinnere, erinnere ich mich an den Vorsatz, die Anstrengung. Und erst als zweites an den Blick selbst.
Als hätte ich eine Schutzschicht, wie ein persönliches Virenschutzprogramm, das nichts ungeprüft und unmittelbar hereinlässt, sondern erst auf Viren prüft, Verträglichkeit absichert, Kompatibilität, Erinnerungstauglichkeit. Das abwiegt, portioniert, eintütet und zuklebt. Der Moment hat keine Gegenwart. Er existiert nur als Erinnerung im Schaukasten.
Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, durchlässiger zu werden. Dass diese harte Schale porös wird, von mir aus zu einer dünnen Haut, von mir aus zu nichts. Was müsste ich dafür bezahlen?
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Dankbarkeit ist der dritte Schlüssel zur Gelassenheit, und das Symbol dafür ist die Schale. Ich lese das bei Uta nach, selbst kenne ich das Buch leider nicht. Vielleicht verstehe ich den Begriff Schale ein wenig anders als gemeint.
Außerdem hänge ich um einen Begriff nach, aber das sei mir (hoffentlich) verziehen, immerhin hatte ich heute Lesung und es war schön!
Die Vorstellung ist grässlich. Und es ist so viel Wahres daran, und das ist das Grässlichste daran. Nehmen wir Urlaubsreisen, die klassische Erinnerungsquelle. Wie viele Situationen empfinde ich als unmittelbar gegenwärtig erlebt? Als ich mich auf Korsika, bei der Besteigung eines Gipfels der Nordinsel, unter dem Gipfelkreuz auf den Boden legen musste, weil der Wind so heftig an mir riss. Auf drei Seiten war Meer, ungeheuer tief. Ich hatte Todesangst und war restlos glücklich. In Barcelona hatte ich so einen Moment, als ich vom Montjuic aus auf die Dachlandschaft hinuntersah. Es war nicht mein erster Besuch in Barcelona, aber es war der Beginn einer Liebe. Ich muss nachdenken, um mehr solcher Momente zu finden. Demgegenüber stehen die Momente des Abspeicherns, und das sind unzählige. Als ich im Augenblick des Erlebens den Gedanken hatte: Das muss ich mir merken. Das darf ich nie vergessen. In dem Augenblick, in dem er geboren wurde, war der Augenblick bereits Konserve. Und sich dessen bewusst zu sein, gibt dem unverstellten Blick den Todesstoß. So erlebte ich es in den bezaubernden Wäldern in Portugal, den schönsten Wäldern, die ich je gesehen habe: DAS schaue ich mir HIER UND JETZT an. Mit einem langen, langen Blick. Einem sehr bewussten. Wenn ich mich daran erinnere, erinnere ich mich an den Vorsatz, die Anstrengung. Und erst als zweites an den Blick selbst.
Als hätte ich eine Schutzschicht, wie ein persönliches Virenschutzprogramm, das nichts ungeprüft und unmittelbar hereinlässt, sondern erst auf Viren prüft, Verträglichkeit absichert, Kompatibilität, Erinnerungstauglichkeit. Das abwiegt, portioniert, eintütet und zuklebt. Der Moment hat keine Gegenwart. Er existiert nur als Erinnerung im Schaukasten.
Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, durchlässiger zu werden. Dass diese harte Schale porös wird, von mir aus zu einer dünnen Haut, von mir aus zu nichts. Was müsste ich dafür bezahlen?
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Dankbarkeit ist der dritte Schlüssel zur Gelassenheit, und das Symbol dafür ist die Schale. Ich lese das bei Uta nach, selbst kenne ich das Buch leider nicht. Vielleicht verstehe ich den Begriff Schale ein wenig anders als gemeint.
Außerdem hänge ich um einen Begriff nach, aber das sei mir (hoffentlich) verziehen, immerhin hatte ich heute Lesung und es war schön!
schmollfisch - 14. Nov, 23:38