Man kann hirnen wie man will ...

... und findet trotzdem manchmal nicht die Worte, zu sagen, was zu sagen wäre, weil es die Worte nicht gibt. Da habe ich mir irgendwann eine Vorliebe für Geigenmusik angewöhnt, also Musik für Violine solo, aber bisher reicht mein Spektrum nicht über Paganini und ein klein wenig Bach (die berühmte e-moll-Partita) hinaus. Eigentlich genügt das auch. Wer sich intensiv mit so etwas befassen will, dem reichen ein, zwei CDs ein Jahr lang. Ich bin sogar ein Jahr lang mit einer Audiokassette ausgekommen. Die hat mir mein Schreibfreund Martin aufgenommen, und zwar von einer Schallplatte. Wer das nicht kennt: Schallplatten sind diese runden schwarzen Dinger, die immer kratzen. Auf der Kassette meines Schreibfreundes Martin kratzt es ganz gewaltig. Aber es wird Paganini gespielt, und wie! Abgesehen davon, dass der Interpret, ein Geiger mit dem schönen Namen Zsigmondy, beim Musizieren hörbar schwer atmet, ist diese Aufnahme einfach ein Knaller. Das fetzt. Kann durchaus sein, dass das Atmen mehr bereichert als stört.
So nach und nach erwärmte ich mich für Paganini und kaufte mir die eine oder andere Aufnahme auf CD. Zum Beispiel eine von einem Geiger namens Milenkovich, der auf dem Cover eine mafiöse Miene zeigt (zurückgekämmte schwarze Mähne) und Paganini glasklar und präzise hergeigt, als spiele er Bach. Man hört ihn auch nicht schnaufen. Er hat immer alles unter Kontrolle, bis in das letzte Vierundsechzigstel Flageolet. Man möchte weinen über die eigene Unfähigkeit, sich gewählt auszudrücken; Milenkovich verliert die Contenance nicht einen Sekundenbruchteil lang. Ich muss da immer an Christian Bale denken, den ich unlängst in "American Psycho" sah. Sicher macht Milenkovich jeden Morgen hundert Situps und frühstückt ungesalzenen Reis. Dass er nach Weglegen der Geige mit der Kettensäge rumrennt, will ich ihm nicht unterstellen. Seine Musik ist überirdisch. (Reizendes Kompliment.)
Nach zwei bis drei Jahren Milenkovich und andere habe ich mir so nach und nach überlegt, die 17 Euronen sollten doch mal langsam drin sein, dass ich mir eine CD von Zsigmondy kaufe - also dem schwer atmenden Herrn, mit dem mein Paganini anfing. Gesagt, getan. Seit zwei Wochen liegt die CD hier. Und ich stelle mit Entsetzen fest: Zsigmondy spielt FALSCH! Also nicht das, was man richtig falsch nennt. Bei Geigenmusik gibt es ohnehin nicht so ein richtig oder falsch wie bei Klaviermusik. Er spielt nicht richtig falsch, er spielt schräge, gleisnerisch, zigeunerhaft; er liegt so haarscharf daneben, dass es für eine Dauergänsehaut reicht, die so anstrengend ist wie ein multipler Orgasmus. Also ich weiß nicht, ob ich ihn besser finde als Milenkovich oder nicht. Nach einer Stunde Zsigmondy sehne ich mich nur noch nach glasklarer Härte, nach einer Stunde Milenkovich möchte ich bitte die multiple Gänsehaut zurück. Und zwischendurch fragt mein Mann, ob es nicht bald ein Ende hat mit all dem Gefiedel, das für jemanden, der nicht sehr genau hinhört, ohnehin alles gleich klingt.
Aber so leid es mir tut, wenn ich dann mit "Juli" oder was auch immer aufs MTV-Niveau geworfen werde, klingt alles gleich plump. Wem ich auch immer damit auf die Zehen trete. Tschuldigung.

Blubbern als Kunst!

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(Meridian 2/2012)

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