Bauer findet Frau nicht

Den „Schwedenkrimis“ (die auch aus Norwegen, Finnland oder gar Island stammen dürfen) wird eine Tendenz zur Sozialkritik und vertiefter Psychologisierung nachgesagt. Ich weiß nicht, ob Martin Beck und seine Kollegen als Urgestein des Schwedenkrimis bezeichnet werden können; die derzeitige Hype hat jedenfalls mit Wallander begonnen, und an Wallander zeigt sich exemplarisch, was den Schwedenkrimi ausmacht: leicht mürrische Skepsis gegenüber dem modernen Leben, überforderte Polizei, verzweifelte Ermittler und ebenso verzweifelte Täter (meistens). Ein fröhlicher Ermittler wie Hakan Nessers Gunnar Barbarotti hat die undankbare Rolle eines bloßen (etwas naiv wirkenden) Kommentators zu Nessers Romanplots. In einem der drei Bücher taucht er erst nach dem ersten Drittel auf, im aktuellen Roman „Das zweite Leben des Herrn Roos“ gar erst in der Mitte. Den Großteil aller drei Barbarotti-Romane nimmt das eigentliche Geschehen um „die Tat“ ein, von dem Barbarotti, soviel erschließt sich dem Leser jedenfalls, bloß die Oberfläche ankratzt. So weit, so schön. Klingt eigentlich reizvoll.

Trotzdem habe ich beim Lesen des „Herrn Roos“ mehrmals das Bedürfnis verspürt, mir zwischendurch Luft zu machen wegen des Ärgers, den dieses Buch in mir auslöst. Ante Valdemar Roos, ein Angestellter in den Sechzigern, gewinnt eine Riesensumme beim Fußballtoto und benutzt die Kohle, sich ein Häuschen im Wald zu kaufen, wo er sich vor seiner nervigen Familie zurückziehen kann. Ist ja sein gutes Recht. Das Grundproblem des Herrn Ante Valdemar Roos sei kurz mit einem längeren Zitat illustriert:

Nach dem samstäglichen Kaffee am Vormittag und nachdem er mehrere Male erklärt hatte, wie es ihm gelungen war, seine Brille in der Dusche zu zerbrechen, zerfiel der Tag in drei Teile.
Zuerst fuhren sie ins Coop-Kaufhaus nach Billundsberg und kauften Lebensnotwendiges für dreitausend Kronen ein. Das dauerte drei Stunden. Dann fuhren sie nach Hause und begannen, diese lebensnotwendigen Dinge auseinanderzurupfen und auf verschiedene Art und Weise anzurichten. Das dauerte ungefähr genauso lange.
Anschließend duschten sie und machten sich fertig. Das dauerte bei Valdemar eine Viertelstunde, anderthalb Stunden bei Alice. Valdemar schaffte noch ein zehnminütiges Nickerchen.
Um sieben Uhr klingelte es an der Tür. Alices alte Studienkollegen (…) waren gekommen.
Dann saß man zusammen und schaufelte all die zubereiteten Dinge – plus ein unterschiedlich ausfallendes Quantum an Wein und Schnaps – in sich hinein, das dauerte vier Stunden und fünfundvierzig Minuten.


Rest geschenkt. An anderer Stelle wird noch erwähnt, dass Ante Valdemar Roos seine gesellschaftlichen Pflichten dadurch aufzulockern pflegt, dass er sich während solcher Zusammenkünfte auf die Toilette verkriecht. Er bleibt einfach auf der Brille sitzen und döst so lange vor sich hin, wie mit Anstand machbar ist, ohne aufzufallen.

Als ich diese Passagen las (die zitierte Stelle ist nur ein Beispiel von vielen; das ganze erste Drittel des Buches beschäftigt sich nur damit, solcherart den Druck bildhaft zu machen, unter dem Herr Roos steht), glaubte ich, in einen Roman von Julian Symons geraten zu sein. Er hat Bücher geschrieben, die sich mit einer ähnlichen Personenkonstallation beschäftigen. Übermächtige Frau (Nesser schreibt einmal über Alice, dass sie ihre Fäuste beim Reden „in das stemmt, was einmal ihre Taille gewesen war“), kleiner und irgendwie grauer Mann, ein Übermaß an gesellschaftlichen und beruflichen Pflichten. Nur hat Symons seine Bücher in den Fünfzigern geschrieben. Da waren sie vermutlich interessant. Ich habe einige davon gelesen, als mich die Entwicklung des Kriminalromans im allgemeinen interessiert hat. Dass heute noch ein Krimiautor eine solche Konstellation zusammenstrickt, um das Handeln seiner Hauptperson zu motivieren, finde ich gelinde gesagt erstaunlich. Jedenfalls dann, wenn diese Hauptperson als Sympathiefigur aufgebaut wird.

Schon im zweiten Barbarotti-Roman "Eine ganz andere Geschichte" gibt es erst recht spät eine Gegenstimme – der Leser erfährt irgendwann im letzten Sechstel, dass es wirklich eine ganz andere Geschichte ist, die er liest (an diesem Punkt habe ich das Buch übrigens in die Ecke geschmissen und erst ein Vierteljahr später weitergelesen). In Herrn Roos’ zweitem Leben kommt die Gegenstimme zu spät und ist zu schwach, um meinen hoffnungslosen Ärger über diesen Komplettversager noch irgendwie mildern zu können. Er mag weder seine Frau, noch mag er die angeheirateten Töchter, noch die sogenannten Freunde der Familie, was natürlich auch sein gutes Recht ist, aber er macht obendrein auch noch Frau, Töchter und die ganze übrige Mischpoke für die Armseligkeit seines Lebens verantwortlich. Nein, das sagt er natürlich nicht ausdrücklich. Er sagt ja überhaupt so gut wie nie etwas ausdrücklich. Statt dessen kauft er sich ein schwarzes Notizbuch und nimmt sich vor, jeden Tag, den er in seinem Exil zubringt, einen Satz hineinzuschreiben, „einen richtig gehaltvollen Gedanken über das Leben und seine Bedingungen“. Da steht dann zum Beispiel drin: „Nur selten ahnt der Bauer beim Schach die Absichten seines Meisters“. Aha. Wäre ja eine nette Sache, mal einen Kriminalroman aus der Sicht eines Bauern beim Schach zu lesen. Schade nur, dass der Bauer bis zum Schluss nichts ahnt und die Ziellinie, auf der er Dame werden könnte, nicht mal von weitem zu sehen bekommt. Einmal zieht er ein Feld schräg und schlägt. Wie ein Bauer es halt macht. Wenn der Meister es will. Aber wer ist eigentlich sein Meister? Hakan Nesser jedenfalls nicht. Er lässt seinen Protagonisten buchstäblich ins Leere laufen.

Ich hoffe, Nessers nächste Hauptperson kriegt ein wenig mehr vor sich. Sonst war das mein letzter Barbarotti. (Obwohl ich beim Schwedenkrimi übrigens genau diejenigen Bücher bevorzuge, die die Amazon-Kritiker langweilig nennen …)

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