schmollfisch liest

Tsunami ...

Aus gegebenem Anlass (siehe letzter Eintrag) beschäftigt sich der Fisch gerade ein wenig mit Shakespeares Sommernachtstraum. Einstweilen liegt mir nur die Übersetzung von Ludwig Tieck vor. Wenn ich morgen Zeit finde, den Keller umzugraben, kann ich mir auch den Originaltext daneben legen, obwohl ich den Verdacht habe, dass Tiecks Übersetzung blumiger und bildhafter ist als das Original. Wie auch immer.

Motor der Handlung ist ein Ehekrach zwischen Oberon und Titania. Bei Elfens geht es kaum anders zu als bei Menschens; die beiden gehen sich schon eine ganze Weile aus dem Wege, und wenn sie sich begegnen, giften sie einander an. Im Originaltext bezichtigt jedes den anderen der Untreue. Darauf folgt eine Gardinenpredigt Titanias, die mich sehr beeindruckt hat:

... Und nie seit Sonmmers Anfang trafen wir
auf Hügeln noch im Tal, im Wald noch Wiese,
am Kieselbrunnen, am beschilften Bach,
noch an des Meeres Klippenstrand uns an
dass dein Gezänk uns nicht die Lust verdarb.
(...) Drum schleppt der Ochs sein Joch umsonst, der Pflüger
vergeudet seinen Schweiß, das grüne Korn
verfault, eh' seine Jugend Bart gewinnt,
leer steht die Hürd' auf der ersäuften Flur,
und Krähen prassen in der siechen Herde.
Verschlämmt vom Lehme liegt die Kegelbahn;
unkennbar sind die art'gen Labyrinthe
im muntern Grün, weil niemand sie betritt.
Den Menschenkindern fehlt die Winterlust;
kein Sang noch Jubel macht die Nächte froh.
Drum hat der Mond, der Fluten Oberherr,
vor Zorne bleich, die ganze Luft gewaschen
und fieberhafter Flüsse viel erzeugt.
Durch eben die Zerrüttung wandeln sich
die Jahreszeiten: silberhaar'ger Frost
fällt in den zarten Schoß der Purpurrose;
indes ein würz'ger Kranz von Sommerknospen
auf Hiems' dünner und beeister Scheitel
als wie zum Spotte prangt. Der Lenz, der Sommer,
der zeitigende Herbst, der zorn'ge Winter,
sie alle tauschen die gewohnte Tracht,
und die erstaunte Welt erkennt nicht mehr
an ihrer Frucht und Art, wer jeder ist.
Und diese ganze Brut von Plagen kommt
von unserm Streit, von unserm Zwiespalt her:
Wir sind davon die Stifter und Erzeuger.


In Brittens Opernfassung geben Oberon und Titania diese Zeilen in Wechselrede und mehr oder weniger gleichzeitig von sich. In der letzten Zeile sind sie sich jedenfalls einig und bekräftigen lauthals mit mehrmals wiederholtem "Wir! Wir! Wir!"




Sie sind erstaunlich sicher, für alles Übel in der Welt verantwortlich zu sein. Jedenfalls für den Klimawandel. (Für meinen Zahnstatus weniger.) Denn ist das, was hier so wortreich beschrieben wird, in geraffter Form nicht genau das, was wir in den letzten Jahren beobachten und was uns angeblich noch bevorsteht? Überschwemmungen, verdorbene Ernten und Misswuchs und vor allem die Unberechenbarkeit des Wetters, die eine vernünftige Planung von Saat und Ernte erschwert. Ach ja, und witterungsbedingte Erosion. Vielleicht hat sogar Frank Schätzing, ehe er den "Schwarm" schrieb, vorher einen Blick in den Sommernachtstraum geworfen. Die Genauigkeit des Bildes ist beeindruckend. Ach ja, kann ich irgendetwas tun, um Titania und Oberon zu versöhnen?

Ich finde die zitierte Stelle sprachlich so hinreißend, dass ich mir auf jeden Fall die weitere Entwicklung des Ehekrachs noch anlesen werde. (Die Rüpelszenen lesen sich hingegen nicht gut - auf der Bühne kommen sie umso besser, vor allem mit Brittens kongenialer Musik. Wir haben Tränen gelacht!)

Schafschur bei Thomas Hardy

Nachdem Bathsheba hier einen Blick hingeworfen, dort zur Vorsicht gemahnt und einen der jüngeren Arbeiter zurechtgewiesen hatte, der sein zuletzt abgefertigtes Schaf zur Herde hatte zurückgehen lassen, ohne es wieder mit ihren Initialen zu stempeln, ging sie erneut zu Gabriel, der gerade sein Frühstück beiseitelegte, um ein verängstigtes Mutterschaf zu seinem Scherplatz zu zerren, das er dann mit einer geschickten Drehung seines Armes auf den Rücken warf. Er schnitt die Kopflocken des Schafes ab und legte Hals und Nacken frei, während seine Herrin ruhig zuschaute.
"Es errötet über diese Beleidigung", sagte Bathsheba leise, als sie die leichte Röte aufkommen sah, die sich über Nacken und Schultern des Mutterschafes, dort, wie sie von den klickenden Scheren entblößt worden waren, ausbreitete - ein Erröten, um dessen Zartheit es so manche Salondame beneidet hätte und das jeder Frau auf Erden wegen seiner Promptheit zur Ehre gereicht hätte.
Die Seele des armen Gabriel erhielt Nahrung, da er den Luxus genoß, sie neben sich zu haben, während ihre Augen seine geschickt geführte Schere kritisch verfolgten, die scheinbar jedesmal, wenn er an die Haut kam, ein Stück Fleisch mitnahm und es doch nicht tat. (...) Erfüllt von dieser milden Seligkeit, fuhr er in seiner Arbeit fort und fuhr mit der Schere allmählich Strich für Strich um die Wamme, dann über Flanke und Rücken und zuletzt über den Schwanz.
"Gut gemacht - und so schnell!" sagte Bathsheba und sah beim Klicken des letzten Schnittes auf die Uhr.
"Wie lange, Miss?" fragte Gabriel und wischte sich die Stirn.


Naaa? Mitraten? Vier Minuten? Fünf Minuten? (Bei Youtube kann man Wettscheren-Wettbewerbe sehen, bei denen die Schur in weniger als zwei Minuten stattfindet.)

"Dreiundzwanzig und eine halbe Minute, sei sie ihm die erste Locke von der Stirn geschnitten haben. Es ist das allererste Mal, dass ich gesehen habe, wie ein Schaf in weniger als einer halben Stunde geschoren wurde."

So steht es bei Thomas Hardy, in "Fern vom Treiben der Menge", erstmals erschienen 1874. Lange vor der Erfindung der Elektroschere. Heute haben es Schaf und Scherer scheint's etwas leichter, jedenfalls sind sie schneller fertig. Aber wer etwas über Schafhaltung im ländlichen England dieser Epoche erfahren will, kann es mit diesem Roman auf unterhaltsame Art tun. (Wer danach noch nicht genug hat und mit Milchwirtschaft weitermachen will, greife zu "Tess von d'Urbervilles".)

Und so geht es zu Ende:
Keuchend springt das schmucklose Muttertier fort über das Brett zwischen die nackte Herde draußen. Und dann kommt Maryann, wirft die losen Locken in die Mitte der geschorenen Wolle, rollt alles zusammen und trägt es auf das Schlachtfeld als drei Pfund unverfälschte Wärme, deren sich im Winter Menschen, unbekannt und fern von hier, erfreuen, die jedoch niemals das höchste Behagen, das man aus der Wolle gewinnen kann, erfahren werden, wie man es hier kennt, da sie noch neu und rein ist und ihre natürliche Öligkeit im lebenden Zustand noch nicht ausgetrocknet und sie nicht steif und ausgewaschen ist - was sie gerade jetzt allem sonstigen Wollenen überlegen macht, so wie Sahne wäßriger Milch überlegen ist.

Ob Thomas Hardy sich jemals selbst hingestellt und Rohwolle gesponnen hat? Übermäßig romantische Darstellung will ich ihm jedoch nicht ankreiden. Der Roman beginnt damit, dass der hoffnungsvolle junge Schäfer Gabriel zweihundert Schafe auf einmal einbüßt, weil ein übereifriger junger Hund sie durch einen Zaun in einen Abgrund treibt. Der Hund wird noch am gleichen Tage erschossen. Ein weiterer Fall des unglücklichen Schicksals, das so oft Hunde und andere Philosophen ereilt, die einen Gedankengang bis zu seinem logischen Ende verfolgen und ein vollkommen konsequentes Verhalten in einer Welt wagen, die in so hohem Maße aus Kompromissen besteht.

Mag auch die Elektroschere die Dauer des Scherens von dreiundzwanzigeinhalb auf zwei Minuten verkürzt haben - im Prinzip bleibt unsere Welt anscheinend immer gleich.

Händel bei Hesse

Beim Textdurchsehen habe ich gerade das gefunden:



»Ich hab’s zu Hause nicht mehr ausgehalten. Neben mir wohnt ein Mensch, der stundenlang Ballerspiele am Rechner spielt … und außerdem geigt er. Das hat mir den Rest gegeben.«
»Das muss doch Spaß machen. Geigt er denn gut?«
»Kann ich nicht beurteilen. Ich find’s unerträglich.«
»Dafür hab ich auch was.« Jette legte ihr Buch weg, griff sich ein anderes vom Tisch (es war klein und blau) und begann zu blättern. »Hier ist es: ‚Er war ganz trübsinnig und liebte es neuerdings, allein in einem entlegenen Übungszimmer auf der Geige zu stürmen …’«
»‚… oder mit den Kameraden Händel anzufangen’.« Melissa lachte. »Das kenne ich noch gut, es ist aus Hermann Hesse, Unterm Rad. Das war Schullektüre.«


Ja schön, wenn einer entweder Geige spielt oder mit den Kameraden Händel anfängt. Ich goutiere auch, wenn er Vivaldi anfängt, aber vielleicht hatte Hesse es nicht so mit den Italienern, Goethe hat er ja offensichtlich gehasst ("der alte Wichtigtuer"), und er beliebte mit Sicht auf den Lago Maggiore zu wohnen, aber "Venti, turbini" ist da auch sicher gut gekommen.

Händel rocks!

Wallander ...

... sagt im letzten Wallander-Buch (das, in dem er Alzheimer kriegt) einen wunderbaren Satz, der nur deshalb knapp an der Dummsatz-Qualfikation vorbeischrammt, weil es eben ein wunderbarer Satz ist.

Voraus geht eine Bemerkung eines Kollegen: seine ca. dreizehnjährige Tochter (also die des Kollegen) sei ganz wild auf Yoga. Er könne das nicht verstehen. Seine älteren Kinder hätten sich in diesem Alter für Pferde interessiert. Aber die Jüngste sei anders.

Darauf Wallander: "Wir sind alle anders."
Mankell notiert, dass er das "kryptisch" sagt.

Ich kann mir richtig vorstellen, wie Wallander kryptisch sagt: "Wir sind alle anders." Am besten in abgewetzter Lederjacke und mit unrasiertem Kinn.

Gestern zog ich mal wieder "Vor dem Frost" aus dem Regal. Das ist der etwas andere Wallander-Roman, in dem nicht Wallander, sondern seine Tochter Linda die Hauptrolle spielt. Und stieß auf folgende Szene: Linda unterhält sich mit ihrem Vater (Wallander) über Großvater Wallander. "So war mein Vater", bemerkt Wallander. "Aber für dich war er bestimmt ein anderer."

Worauf Linda antwortet: "Alle sind für alle anderen anders."

In meiner Vorstellung hat nun auch Linda eine abgewetzte Lederjacke und ein unrasiertes Kinn, aber das liegt vermutlich an mir.

Fest steht: Ein anderer Name als Wallander wäre für diese Familie undenkbar.

Dummsätze, die x-te

Ich habe zwei neue Dummsätze, gefunden diesmal bei Stieg Larsson. Ja, ich habe mich endlich durchgerungen und die komplette Trilogie gelesen. (Die zweite Hälfte des dritten Bandes nur noch quer, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.)

Dummsatz 1 (zitiert aus dem Gedächtnis):
"Er nahm einen leeren Block aus seiner Mappe und schlug eine unbeschriebene Seite auf."

Woraus wir entnehmen können, dass Herr Larsson Wert auf Gründlichkeit legt. (Wahrscheinlich war er Deutscher, ohne es zu wissen.)

Dummsatz 2:
"Er fegte eine Stunde lang den Boden, wischte Staub, scheuerte das Bad, nahm den Kühlschrank in Betrieb, kontrollierte die Wasserhähne und bezog sein Bett (...)"

Tja, gründlich wie immer. Wenn ich eine Stunde lang den Boden gefegt hätte, dann wäre ich so fertig, dass ich weder Wasserhähne kontrollieren könnte noch das Bett beziehen. Geschweige denn das Buch auslesen.

Aber ich will nicht patzig werden. Schlecht ist das Buch wirklich nicht. Nur nicht so gut wie Mankell. Und sogar der hat Dummsätze geschrieben. Wie jeder. Ich auch.

Dem Nebel zugewandt ...

Gerade habe ich zum zweiten Mal "Die Poeten der Nacht" von Barry McCrea gelesen. (Das Buch, dem ich mein Romanrätsel entnommen habe.)
Laut Literaturkritik "eine Hommage an James Joyce", weil der Autor sich angeblich große Mühe gegeben hat, reale Orte (Straßen und Kneipen) in Dublin zu schildern; man könnte vermutlich mit dem Buch in der Hand die Schauplätze ablaufen. Man könnte. Ich lasse es lieber bleiben, denn die Kneipenszenen münden meistens in unappetitliche Besäufnisse oder in schwule Erotik. Aber das nur nebenbei.

Niall, der Erzähler, schreibt sich als Literaturstudent mit Stipendium an der Uni in Dublin ein. Bald kommt er in Kontakt mit zwei anderen jungen Leuten, John und Sarah, die nie ohne einen Stapel Bücher das Haus verlassen und überall lesend anzutreffen sind. Dahinter steckt, wie sich bald herausstellt, eine Art Orakel-Kult: John und Sarah verstehen sich als Angehörige eines elitären Zirkels und lesen die Antworten auf alle wichtigen Fragen des täglichen Lebens aus beliebig herausgegriffenen Buchstellen - in der gleichen Art, wie man im Volkstum eine Nadel in die Bibel sticht. Die beiden nehmen Niall, wenn auch widerwillig, in ihren "Kreis" auf.
Sie praktizieren - angeblich als Anhänger einer Sekte namens "Pour Mieux Vivre" - eine völlig neue Art des Lesens, in der Bücher nicht als Sammlung einzelner Geschichten verstanden werden, sondern als Wortdepot, gewissermaßen als intellektuelle Essenz der Menschheitsgeschichte. John zum Beispiel hat den ganzen Ulysses in, wenn ich mich richtig erinnere, sieben Stunden gelesen, Wort für Wort. Wovon das Buch handelt, hat er in der Eile nicht mitbekommen, aber er hat jedenfalls jedes Wort gelesen. Ähnlich absurde Arten des Lesens tauchen immer wieder auf. John, Sarah und Niall zeigen alle Symptome hochgradig infizierter Sektenschüler: Sie verlieren den Kontakt zur Wirklichkeit, sind nicht mehr in der Lage, normale Gespräche zu führen, weil sie ständig in Büchern blättern müssen (sie gehen nie ohne einen Stapel Bücher aus dem Haus), vernachlässigen sich selbst und ihre häusliche Umgebung. John verliert seinen Arbeitsplatz bei einer Bank, Niall um ein Haar sein Stipendium.
Es versteht sich von Anfang an - schon im Prolog wird es klargestellt -, dass Niall es irgendwie schaffen wird, aus dieser Abwärtsspirale wieder herauszukommen. Doch selbst in der Rückschau, aus der er seine Geschichte erzählt, scheint er den Mechanismus seiner Abhängigkeit nicht zu verstehen. Zumindest in einigen Punkten hat der Leser dabei mehr Durchblick als der Erzähler; zum Beispiel fällt Niall nicht auf, dass die Mailadresse des portugiesischen Sektenführers Luis ein Anagramm seines eigenen Namens ist (an mehreren Stellen des Romans tauchen Anagramme auf, die der Leser selbst klären muss, eine hübsche Aufgabe für langweilige Stunden am Computer). Nie ganz geklärt wird auch die Rolle von Nialls geheimem Führer: eine märchenhafte, vermutlich von Niall imaginierte Figur, ein junger Mann namens Pablo Virgomare, der ihm ganz zu Anfang bei seinem Einzug ins Studentenwohnheim zum ersten Mal begegnet und danach in Abständen immer wieder auftaucht. Virgomare, die Meerjungfrau? Niall sagt über ihn: "Ich musterte ihn immer ganz genau von oben bius unten, voller Zweifel, um mich von seiner Existenz zu überzeugen. Dabei registrierte ich alle Einzelheiten, seine gebräunte Haut, seine grünen Augen, die schicken Klamotten, die kleine Narbe über dem rechten Auge. Das menschliche Zucken seines Fleisches war für mich die Bestätigung seiner Existenz."
Dieser so wirkliche Mensch - mit ausgesprochen erotischer Ausstrahlung, so dürfte es jedenfalls gemeint sein - erscheint bereitwillig überall, wo sich Niall auf die Straße stellt und eine Zeile aus "Oranges and lemons, say the bells of St. Clement's" singt. In einem dem Roman vorangestellten Zitat bezieht sich McCrea ausdrücklich auf George Orwell. In "1984" ist der Kinderreim mit den Londoner Kirchenglocken eine der wenigen bruchstückhaften Erinnerungen, die der Protagonist noch an seine Kindheit hat.

"Poeten der Nacht" steckt voller Anspielungen, Zitate, Kinderlieder, und die Verwirrung eines Menschen, der sich in fast autistischer Weise mit ungeordneten Textbrocken vollstopft, wird meiner Meinung nach sehr anschaulich dargestellt. Ich kann die Amazon-Leserkritiken, die dem Erzähler z.T. Emotionslosigkeit vorwerfen, nicht nachvollziehen.
Wirklich durchsichtig wird Nialls Geschichte wohl erst dann, wenn der Leser - wie er selbst - sich zumindest zeitweise vom äußeren Sinn des Textes löst und statt dessen kreuz und quer nach Wortanspielungen sucht. Niall schreibt am Anfang des Romans einen Beitrag für eine Studentenzeitschrift mit dem Titel "Dem Nebel zugewandt" - ein hübsches Bild für diese Art des Lesens.

Ich sollte wahrscheinlich viel mehr darüber schreiben, was ich gelesen habe. Demnächst in diesem Theater werde ich mich über Albert Sánchez Piñol auslassen. Das tollste Leseerlebnis und die größte Enttäuschung 2009. Ich bezweifle, dass dieses Jahr ein noch größerer Höhenflug und Absturz kommt.

Literarisches Rätsel, dritter Teil

Der Schmollfisch hat die Ehre und das Vergnügen, in der von la mamma begonnenen und von Walküre fortgesetzten Rätselserie das dritte Rätsel stellen zu dürfen. Gegeben wird hiermit der Anfang eines Romans. Welches Romans? Das eben ist das Rätsel.
Die ersten vier Romane, nach denen ich spontan gegriffen habe, waren ungeeignet, weil Ort, Zeit und/oder Hauptperson im ersten Satz genau benannt wurden. Der fünfte Roman hatte einen sehr schönen ersten Satz, aber der steht samt dem ganzen Prolog komplett im Internet. Der sechste Roman ist sogar in eine Google-Liste der schönsten Romananfänge eingegangen. (Wusste gar nicht, dass es so was gibt.)
Ehe ich also die halbe Nacht an dieses Rätsel wende, mache ich Folgendes: Ich kehre zum fünften Buch zurück. Das, dessen Prolog komplett im Internet steht. Ich lasse den zwei Seiten langen Prolog weg und präsentiere den Anfang des ersten Kapitels. Und zwar die ersten zwei Sätze. Der zweite Satz endet mit einem Ortsnamen. Den ersetze ich durch ein Sternchen.

Auf geht's:
Aber am Anfang waren da nur Wörter. Lange Zeit hatte ich gelogen und behauptet, dass Worte "immer" schon "mein Ding" gewesen seien, obwohl ich in Wahrheit nur über die raue Sprache meiner Heimat verfügte, der Vororte südlich von *.

Vielleicht kennt's jemand.
Und zu gewinnen gibt's die Ehre und das Vergnügen, das vierte Rätsel der Serie stellen zu dürfen.

Neue Dummsätze

Mein Mann hat ein Haushaltsbuch. Das Buch hat DIN A 4-Format, ist durchgehend liniert und hat einen schmalen Rand links und rechts auf jeder Seite. Das ist alles.

Auf dem Vorsatzblatt des Buchs steht das folgende:

"Die für den internationalen Markt bestimmten Produkte der Serie O.I. wurden alle mit dem Ziel entwickelt, die Hauptfunktionen zu erfüllen: Schreiben, Ordnen, Organisieren. Das C-System ist mehr als ein Stil, es ist das Ergebnis der Synthese einer gründlichen Badarfsanalyse und der Erwartungen der Benutzer, zu denen auch Sie gehören. Die Grenzen öffnen sich, und es besteht ein Bedarf an Organisation und Normierung. O.I. bietet eine logische und innovative Lösung. (...) Die Lineaturen wurden so gestaltet, dass sie höchsten Anforderungen des Schreibens genügen."

Meine Tochter weiß nicht recht, was sie nach dem Abi machen soll. Ich habe jetzt ein neues Berufsbild für sie: Werbepoet.

Es wurmt mich aber doch ein bisschen, dass mein Mann mit dem Kauf dieses Haushaltsbuchs den Globalisierungsgedanken unterstützt.

Warum stirbt Javert?

Die beiden Männer sind Feinde seit jeher. Der eine lebt unter falschem Namen, so gut es geht; der andere hat Recht und Gesetz auf seiner Seite.
Der erste hat den zweiten zweimal in der Hand und lässt ihn zweimal am Leben, obwohl er sich damit immer wieder aufs Neue der Unsicherheit seiner illegalen Existenz ausliefert.
Man weiß, dass wir einem Menschen, der uns mit Hass verfolgt, nichts Schlimmeres antun können als etwas Gutes.
Am Ende sind die Rollen vertauscht. Der Polizist richtet die Waffe auf den ehemaligen Sträfling. Jetzt endlich kann er sich rächen für die erlittenen Demütigungen, und er kann es sogar unter dem Schutz des Gesetzes tun.
Er tut es nicht. Er nimmt dem Sträfling die Fesseln ab, schubst ihm von sich weg, legt sich selbst die Fesseln an (es sind Handschellen) und stürzt sich rückwärts in den Fluss.
Warum tut er das?
Ich habe das entsprechende Kapitel in "Les Misérables" eben noch einmal nachgelesen und glaube, er tut es, weil er sich in einem simplen Dilemma befindet: Ausliefern kann er den Sträfling nicht, der ihm nur Gutes erwiesen hat. Laufen lassen kann er ihn aber auch nicht, da er damit seine Existenz als obrigkeitsgehorsamer Polizist vernichtet. (Damit ist nicht Angst vor Degradierung und Strafe gemeint, sondern die Zerstörung eines Weltbildes.)
Der Film, den ich vorhin gesehen habe - darin kommt die Szene mit dem Fluss vor; im Buch läuft der Selbstmord Javerts etwas anders ab -, erlaubt noch eine andere Deutung, eine mehr psychologische, und ich habe selten einen so unglaublich gelungenen Kunstgriff im Film gesehen. Wie im Buch hat sich Valjean eine Weile entfernt; Javert hat Zeit zum Nachdenken. Valjean hat ihn mindestens zweimal tief gedemütigt. Selbst als Javert ihm die Pistole an den Kopf hält, reagiert er kaum; er äußert keinen Hass, keine instinktive Abwehr. "Ich hasse Sie nicht. Ich empfinde nichts."
Javert, der einen großen Teil seines Lebens der Jagd nach Valjean gewidmet hat - man sieht ihn nie etwas anderes tun als Verbrecher jagen und vorneweg den verhassten ehemaligen Sträfling -, steht vor einer psychologischen Zwickmühle, die viel schlimmer ist als bloß der Gewissenskonflikt zwischen Menschlichkeit und Beamtenpflicht. Er kommt Valjean rein menschlich nicht bei. Der Mensch Valjean bleibt ungerührt derselbe, egal, was Javert tut. Er reagiert überhaupt nicht auf Javert. Valjean ist so eingekapselt in seine Menschlichkeit, dass Javert nicht zu ihm durchdringt. Selbst, als Javert am Seineufer die Waffe auf ihn richtet, sind die beiden nicht wirklich beieinander; Valjean könnte am anderen Ende der Welt sein.
Er kann sehr gut ohne Javert auskommen. Aber Javert nicht ohne ihn.
Wahrscheinlich ist der Film ein uralter Hut, aber ich kannte ihn bisher nicht und bin überzeugt, besser kann man eine solche Szene nicht gestalten.
Übrigens gibt es einen sehr interessanten Ausspruch von Valjean, von dem ich nicht sicher bin, ob er auch im Buch vorkommt. Er sagt sinngemäß zu Javert: "Ich soll Sie bestrafen. Dann nehmen Sie meine Verzeihung als Strafe an."

Und nun werde ich mir das Buch noch einmal vornehmen.
Sobald ich mit meinem Krimi fertig bin.
___________________________

"Les Misérables", Regie: Bille August, 1997.

Wettsingen

Aus "Germinal" von Emile Zola, ein DSDS für Finken:

"Fünfzehn Nagelschmiede aus den Werkstätten in Marchiennes hatten der Aufforderung entsprochen und waren, jeder mit einem Dutzend Vogelbauer, eingetroffen. Die kleinen verhangenen Käfige mit ihren unbeweglich dahockenden, geblendeten Finken hingen bereits im Hof der Schenke an einem Bretterzaun. Es handelte sich darum, festzustellen, welcher von den Finken im Verlauf einer Stunde seinen Triller am häufigsten wiederholen würde. (...) Die Finken hatten angefangen, die einen tiefer, die anderen höher, zunächst noch schüchtern und selten einen Triller wagend. Doch dann feuerten sie einander an, sangen schneller und wurden schließlich von einem so wütenden Wetteifer fortgerissen, daß man einige von ihnen tot umfallen sah. Die Nagelschmiede trieben sie heftig an, schrien ihnen auf wallonisch zu, sie sollten weitersingen und immer und immer noch ein Stückchen, während die Zuschauer, etwa hundert an der Zahl, inmitten dieser Höllenmusik von hundertachtzig Finken, die alle durcheinander immer dasselbe wiederholten, in stummer Leidenschaft dastanden. Einer von den höher singenden Finken gewann den ersten Preis, eine Kaffeekanne aus Blech."

Ja.
Die Übersetzung stammt von Johannes Schlaf; die Suhrkamp-Übersetzung von Armin Schwarz, die mir auch vorliegt, berichtet von einer blechernen Kaffeemaschine, was natürlich längst nicht so gut kommt. Das Original kenne ich leider nicht.
Wie eigenartig groß der Spielraum bei Übersetzungen ist, belegt übrigens der zweite Satz dieses Abschnittes: Armin Schwarz verschweigt, dass die Finken geblendet waren; nach seiner Interpretation sitzen sie nur unbeweglich da. Welche Übersetzung korrekt ist, weiß ich leider nicht. Irgendwo im Keller liegt das Original. Irgendwann schaue ich nach. Aber ist dieser Absatz nicht ein Hammer? Blech!

Die Verfilmung von Germinal war übrigens kürzlich im Fernsehen, ich habe es mir kopiert: Gérard Depardieu als hungernder Bergmann kommt etwas komisch, wenn er mit zehn Kilo Übergewicht nach Brot schreit; aber Depardieu kann irgendwie alles; man kauft es ihm ab. Ich habe den Film vor zehn Jahren im Kino gesehen und mich wahnsinnig aufgeregt, weil in der Sitzreihe vor mir ein Idiot von der ersten bis zur letzten Minute dieses sehr tragischen Films wie blöd lachte. Vielleicht war es damals, dass ich beschloss, dass Kino nichts für mich ist. Seitdem gehe ich höchstens einmal im Jahr ins Kino. Drei Jahre waren belegt mit dem Herrn der Ringe, vorletztes Jahr war ich in "Le Veuve de St.Pierre" und, ach ja, in der Neuverfilmung der "Stepford Wives" im Originalton (Englischkursempfehlung für meine Tochter - trotzdem doofer Film), letztes Jahr war ich möglicherweise in garnix und dieses Jahr muss es auch nicht unbedingt sein.

Blubbern als Kunst!

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