Das erste, das zweite und das dritte Mal

Das erste Mal passierte es in der Metro, wahrscheinlich beim Umsteigen. Ich kann mich erinnern, dass ich in einer Station in der Innenstadt rennen musste und ziemlich viel Gedränge herrschte. Fünf Minuten später, als ich im Wagen stand, merkte ich, dass meine Handtasche offen war. Mein Geldbeutel war verschwunden.

Ich konnte es nicht glauben. Drei Stationen weiter stieg ich aus, zog mich in eine ruhige Ecke zurück und leerte meine Handtasche aus. Mein MP3-Player steckte noch drin, Gott sei Dank, und die Brieftasche mit meinem Führerschein auch. (Den Führerschein bewahre ich gesondert auf, weil es noch einer dieser grauen Lappen ist, die in keinen Geldbeutel passen.) Der Geldbeutel war jedoch weg und mit ihm mein Personalausweis, ungefähr achtzig Euro Bargeld, mein Linsenpass, ein Foto von meinen verstorbenen Zwerghäschen, die Bibliothekskarte und drei Rabattmarken vom Bäcker. Das Geld konnte ich verschmerzen, aber den Personalausweis brauchte ich nächste Woche für den Flug nach Hause.

Gleich am nächsten Tag fuhr ich zur deutschen Botschaft. Natürlich wieder mit der Metro, ging ja nicht anders. Die Botschaft war in einem großen grauen Gebäude mit einem Geländer zur Straße hin, das mit nadelscharfen Spitzen bestückt war. Es sah gefährlicher aus als Stacheldraht. Ich wurde mit einem Metalldetektor gefilzt und durfte in die Amtsstube eintreten. Es gab zwei Schalter, der eine unbesetzt, hinter dem anderen saß eine glubschäugige junge Frau. Eine dicke Glaswand trennte sie von mir. Als sie mich kommen sah, winkte sie und beugte sich zu einem Mikrofon herunter, das vor ihr auf dem Schreibtisch stand. „Nehmen Sie Platz“ krächzte es aus einem Lautsprecher über dem Schalter. Wenigstens sprach sie Deutsch. Ich setzte mich und erklärte mein Anliegen.

„Können Sie sich ausweisen?“

Ja, ich hatte noch meinen Führerschein. Ich griff nach der Handtasche. Sie war offen. Diesmal waren die Brieftasche mit dem Führerschein und der MP3-Player weg.

„Tja, dann muss ich rückfragen“, quäkte der Lautsprecher. „Haben Sie Anzeige bei der Polizei erstattet?“
Polizei? Da würde ich doch nur ausgelacht. Die musste sich um Raubmorde, Schlägereien und Falschparker kümmern.

„Sie müssen zur Polizei. Der Verlust muss der Interpol gemeldet werden.“ Ach ja, natürlich, die Rabattmarken und die Bibliothekskarte. Da drohten internationale Verwicklungen.Ein Formular wurde mir zugeschoben. Ich sollte Namen, Geburtsort und Wohnort ausfüllen. Erschrocken merkte ich, dass ich schon Probleme hatte, mich an meinen Geburtsort zu erinnern. Womöglich gab es mich bald gar nicht mehr, wo ich ohne Ausweise dastand?

„Machen Sie erst einmal gute Fotos. Da drüben steht ein Automat. Ich telefoniere inzwischen nach Deutschland.“

Wen wollte die anrufen? Meine Eltern leben nicht mehr. Mein Bruder war auf der Arbeit, da geht er nicht ans Telefon. Mein Geschiedener würde mich sowieso verleugnen. Meine Häschen sind tot.

Sie hatte schon den Telefonhörer in der Hand und winkte ungeduldig seitwärts. „Gehen Sie da rüber. Machen Sie gute Fotos.“

Der Automat war Gott sei Dank mehrsprachig. In der Kabine hing ein Plakat, dem man entnehmen konnte, wie das Foto auszusehen hatte. Ich durfte keine Haare im Gesicht hängen haben, keine Sonnenbrille tragen und nicht verschleiert sein. Ich sollte den Kopf gerade halten und neutral dreinschauen. Letzteres fiel mir schwer. Der Hocker war zu niedrig, und ich wusste nicht, wie ich ihn höher stellen konnte, also reckte ich das Kinn hoch, was wohl nicht sehr neutral aussah, eher kämpferisch. Der Automat machte „Puff“. Auf einem Display erschien ein Vorschaubild. Es war nichts darauf.

„Wenn Sie ein neues Bild möchten, drücken Sie innerhalb von fünf Sekunden den roten Knopf“, stand darunter. „Sie können bis zu drei Bilder machen.“

Ich drückte den roten Knopf. Was soll ich mit einem Foto, auf dem nichts ist, weder kämpferisch noch neutral? Erneut machte es „Puff“ und ein neues Vorschaubild erschien. Wieder war nichts darauf.

Ich zog den Vorhang zurück und rief nach der Schalterdame. „Hallo … ich glaube, der Automat funktioniert nicht. Können Sie bitte …“ Der Automat rasselte. Da ich diesmal nicht den roten Knopf gedrückt hatte, nahm er wohl an, ich sei mit dem zweiten Foto zufrieden. Aus dem Schacht an der Seite rutschten drei Fotos, auf denen nichts war. Wahrscheinlich war ich einfach nicht mehr vorhanden.

Hilfesuchend sah ich mich nach dem Schalter um. Die junge Frau schien auch nicht weitergekommen zu sein. Sie hatte den Telefonhörer am Ohr und runzelte die Stirn. „Ich komme nirgends durch. Kann es sein, dass die Gemeindeverwaltung bei Ihnen zu Hause nicht besetzt ist?“

Klar, das war die Sekretärin in der Gemeindeverwaltung, diese Zimtzicke. Die konnte mich nicht mehr leiden, seit ich einmal eine Satire über die Sperrmüllentsorgung geschrieben hatte. Jetzt stellte sie sich einfach tot.

„Ich kann es an Ihrem Geburtsort versuchen. Wie hieß der noch mal?“

Ich wusste es nicht mehr. Den hatte man vor dreißig Jahren eingemeindet.

„Wenn Sie es bei meinem Zahnarzt versuchen?“, schlug ich vor. „Der kann mit Sicherheit für mich bürgen. Mein Zahnstatus ist einzigartig.“

Sie starrte mich wortlos an.

„Oder der Linsenpass. Meine Optikerin …“ Nein, das kam auch nicht in Frage. Mit meiner Optikerin war ich seit einem Monat zerstritten, weil ich ihre Reklamewurfsendungen sexistisch und präpotent genannt hatte. Die würde mich auch verleugnen.

Ich machte einen letzten Versuch: „Der Bäcker müsste sich doch an mich erinnern können. Weil, ich hatte doch drei Rabattmarken …“ Dann fiel mir nichts mehr ein. Die drei Fotos zeigten immer noch Leere.

„Vielleicht gehen Sie erst mal zur Polizei und erstatten Anzeige“, sagte die Frau energisch. „Das müssen Sie sowieso tun. Bis das erledigt ist, bin ich vielleicht durchgekommen. Haben Sie Fotos gemacht?“

Ich reichte ihr die drei Bilder, auf denen nichts war. Ohne eine Miene zu verziehen, schnitt sie eines davon ab und klebte es auf das Formular, das ich ausgefüllt hatte.

Auf dem Weg zur Polizei kam dann meine Handtasche weg. Ich habe gar nichts davon mitbekommen. Aber sie war ohnehin leer bis auf ein Sudoku-Heftchen, in dem fast alles gelöst war, und die Wochenkarte für die Metro.

Der Rückweg zum Hotel dauerte sehr lange, weil ich zu Fuß ging.

Aber das ist wahrscheinlich eine gute Übung, denn wie es aussieht, werde ich auch zurück nach Deutschland zu Fuß gehen müssen.

Blubbern als Kunst!

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"Es gibt in der geistigen Welt weitaus mehr Gnade, als sich der Mensch vorstellen kann."
(Meridian 2/2012)

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